Copy to Clipboard. Add italics as necessaryZitiervorgabe: Philipp Hanke, »Geteilte Langsamkeit und mögliches Begehren. Queere Zeit(ver)läufe in den Filmen von Kelly Reichardt«, in Queeres Kino / Queere Ästhetiken als Dokumentationen des Prekären, hg. v. Astrid Deuber-Mankowsky und Philipp Hanke, Cultural Inquiry, 22 (Berlin: ICI Berlin Press, 2021), S. 279–97 <https:/​/​doi.org/​10.37050/​ci-22_12>

Geteilte Langsamkeit und mögliches BegehrenQueere Zeit(ver)läufe in den Filmen von Kelly ReichardtPhilipp Hanke

Abstract

In den Filmen Old Joy, Wendy and Lucy und Certain Women werden die zentralen Themen der US-amerikanischen Regisseurin Kelly Reichardt um Armut und Prekarität als Beschäftigung mit Zeitlichkeit deutlich. Der Artikel interessiert sich weiterführend dafür, wie diese Fragen in ihren Filmen auch als queer gelesen werden können. Hierfür werden verschiedene Bewegungen untersucht, die chrononormativen Zuschreibungen entgegenstehen und potentielle Öffnungen und Gefüge zeitigen. Es handelt sich um filmische Unterbrechungen und kleine Brüche, die eine Unklarheit, Abweichung oder Übertretung und die Neuformulierung von Zeit(ver)läufen und Räumen erlauben. Damit offenbart sich ein filmisches Denken, das sich im Bild selbst, in der Kameraführung oder durch Verbindungen in der Montage äußert.

Schlagwörter: Kelly Reichardt; Filmischer Realismus; Slow Cinema; Queere Zeitlichkeiten; Chrononormativität; Independent Cinema

Eine junge Frau verliert die Kontrolle über ihr Auto, sie weicht von der Straße ab, fährt durch einen Zaun und kommt ganz langsam, fast behutsam auf einem Feld zum Stehen. Sie war am Steuer eingeschlafen, ihr Fuß vom Pedal gerutscht. Doch die Inszenierung dieser Filmszene ist weniger an einer Auserzählung der Ursachen für ihre Erschöpfung interessiert, als vielmehr daran, die Fahrt des Autos, seinen Weg und seine Dauer, in den Mittelpunkt zu rücken – als Veräußerung einer inneren Bewegung, als Moment einer Abweichung (s. Abb. 1).

Diesem Moment vorausgegangen ist eine Annäherung zwischen dieser Frau, einer Farmarbeiterin namens Jamie (Lily Gladstone), und der Anwältin Beth (Kristen Stewart). Beide verabredeten sich an mehreren Abenden in einem Diner. Eine subtil und leise erzählte, unerwiderte Liebe, die schließlich in einer Abweisung und Trennung endet, jedoch durch filmische Mittel und zeitliche Bezüge eine Umdeutung erfährt. Beispielhaft zeichnet sich in diesem Film ein im Werk Kelly Reichardts immer wieder durchscheinendes Interesse ab, die Isolation sowie die ökonomische und soziale Ausgrenzung und Prekarität ihrer Figuren mit filmischen Mitteln und insbesondere über zeitliche Bezüge zu unterlaufen.

Abb. 1. Film-Still, , Regie: Kelly Reichardt
          (Stage 6 Films, 2016), Screenshot, Copyright Clyde Park, LLC.
Abb. 1. Film-Still, Certain Women, Regie: Kelly Reichardt (Stage 6 Films, 2016), Screenshot, Copyright Clyde Park, LLC.

Die Geschichte von Jamie und Beth ist eine von drei Episoden in Certain Women.1 Sie alle basieren auf Kurzgeschichten der US-amerikanischen Schriftstellerin Maile Meloy. Reichardt zeigt in diesen Episoden Frauenfiguren, die in der weiten und spärlich besiedelten Landschaft Montanas, im US-amerikanischen Norden, mit den Begrenzungen von Handlungsmöglichkeiten und dem Verlust von Autonomie konfrontiert sind. Die Verortung und konsequente Einbeziehung der Landschaft – mitsamt einer sich durch Totalen und Kameraschwenks ergebenden Langsamkeit – haben sich als distinktive Merkmale von Reichardts gesamtem filmischen Werk herausgestellt. Sie wurden auch zur Grundlage für die Formulierung eines neuen US-amerikanischen und sozialkritischen (Independent-)Kinos. Diese Besprechungen fokussieren auf eine inhärente Kapitalismuskritik und betten Reichardts Filme in einen größeren, politischen – und auch produktionstechnisch relevanten – Diskurs ein.2 Eine Lesart hingegen, die auch auf die in den Filmen wiederholt skizzierte Äußerung von Sexualität und Begehren der Figuren eingeht, findet sich in diesem Kontext kaum. Die Verbindung Reichardts zu den Ideen der Queer Theory und dem Anfang der 1990er Jahre sich herausbildenden New Queer Cinema haben ihren Ursprung in einer langjährigen Zusammenarbeit und Freundschaft mit Todd Haynes, für dessen Debütfilm Poison sie nicht nur für die Kostüme und Requisiten verantwortlich zeichnete, sondern auch als Statistin im Film selbst zu sehen ist.3 Haynes hingegen sollte ab Reichardts zweitem Langfilm, Old Joy, vier weitere Produktionen als ausführender Produzent betreuen.4 Und wie schon in ihren vorherigen Filmen konnte sich Reichardt eine große Eigenständigkeit bewahren.5 Mich interessiert im Folgenden, wie das für Reichardts Werk so zentrale Thema der Zeitlichkeit und die zeitlich gefassten Fragen nach sozialer und ökonomischer Prekarität auch als queer gelesen werden können.

Das »Slow Cinema«, dem Reichardts Filme aufgrund ihres langsamen Tempos und der Dramaturgie häufig zugeordnet werden, kann demnach nicht nur als politisch angesehen werden, weil die Prekarität der Figuren durch die Zeitökonomie der Filme und durch die Taktung der Handlung erfahrbar gemacht und mit den Zuschauer*innen geteilt wird. Diese Langsamkeit übersetzt sich auch in einem der Queer Theory entlehnten Nachdenken über normative (Lebens‑)​Zeitkonzeptionen und Subjektivierungsweisen, wie im Folgenden anhand von drei beispielhaften Szenen untersucht werden soll. Die Filme Old Joy, Wendy and Lucy6 und der eingangs beschriebene Certain Women weisen kleinere oder, mehrere Szenen übergreifende, Bewegungen auf, die mal – mit Elizabeth Freeman gesprochen – chrononormativen Zuschreibungen entgegenstehen, mal im Deleuze’schen Sinne potentielle Öffnungen und Gefüge zeitigen. Es handelt sich um kaum merkliche Unterbrechungen und kleine Brüche, die jedoch dem Handlungsverlauf nicht entgegenstehen, sondern ein zugrundeliegendes Denken offenbaren. Ein Denken, das sich in der Zeichnung der Protagonist*innen, in ihrer Paarung zu anderen Figuren, aber schließlich auch auf ganz filmische Weise äußert: Im Bild selbst, in der Kameraführung oder durch Verbindungen in der Montage. Diese Bewegungen erlauben eine Unklarheit, Abweichung oder Übertretung und die Neu-Formulierung von Zeit(ver)läufen und Räumen.

Die Ökonomisierung von Zeit: Old Joy

Nachdem Kelly Reichardt 1994 ihr Langfilmdebüt River of Grass noch in ihrem Heimatstaat Florida ansiedelte und an ihre eigene Lebensgeschichte anlehnte,7 fand sie mit Old Joy zwölf Jahre später zu einer eigenen Filmsprache und zu einem Setting, zu Themen und Figuren, denen sie bis heute treu geblieben ist. Darin verarbeitete sie gleichzeitig weiterhin eigene Erfahrungen um Heimat- und Wohnungslosigkeit. So lebte sie, ihren Schilderungen zufolge, fünf Jahre ohne eigene Bleibe, auf ständiger Durchreise und auf Schlafgelegenheiten bei Freund*innen und Bekannten angewiesen: »That freedom could have been romantic at one point. But after your mid-30’s, it’s suddenly scary and you’re aware of a different judgement that your friends have about the way you’re living.«8 Reichardt leiht diese biographische Notiz einer der beiden Hauptfiguren in dem Film: Kurt, einem Freigeist, dessen ökonomische Prekarität dem bürgerlich wohlbetuchten Leben seines Jugendfreundes Mark gegenübersteht. Mark ist ein sensibler, ernster Mann, der als Ehemann, werdender Familienvater und Eigenheimbesitzer sein eigenes Ziel von größtmöglicher Normalität erreicht zu haben scheint, den jedoch im weiteren Handlungsverlauf auch Zweifel an diesem Lebensmodell überkommen. Der Film erzählt von der Krise dieser Normalität und gewinnt seinen politischen Gehalt über die Verbindung des Privaten mit einer Perspektive auf die damalige US-amerikanische Regierung unter George W. Bush, angedeutet in den Gesprächen der beiden Männer oder den immer wieder vorkommenden medialen Beschallungen aus Radio und Fernsehen: »Mark and Kurt have taken very different paths, but neither of their lives has seen the comfort or happiness they might have expected […], this sense of precariousness and defeat is informed by the grim realities of twenty-first-century American governance.«9

Die Handlung um einen gemeinsamen Ausflug in die Wildnis von Oregon wird gleichzeitig zu einer Erzählung über die politische Entwicklung der USA Anfang der 2000er Jahre und zu einer Kritik an den Vorstellungen und Lebensentwürfen weißer Männlichkeit. Das Bild von der Natur als Ort der Rückbesinnung und Reinheit ist hier einem anderen gewichen und ambivalent geworden: Die Wildnis wird als unromantischer und rauer Ort, geprägt von Zivilisation und Industrialisierung, gezeichnet. Das Ideal unberührten Landes wird durch Strommästen und Bauzäune aufgebrochen (Zeichen einer Einteilung, Markierung und Nutzbarmachung, zu denen Kurt und Mark jedoch etwa aufgrund fehlenden Handy-Empfangs keinen Zugang haben); in die Natur geworfener Plastikmüll und zurückgelassene Möbel werden zu Behausungen umfunktioniert. Der Wunsch der beiden, zu einer ursprünglichen Natur zurückzukehren, muss genauso wie der Versuch eines Zusammenkommens über die bereits verstrichene (Lebens‑)​Zeit scheitern. Ein Versuch, der sich an ihren unterschiedlichen Zukunftsausrichtungen und Taktungen bricht. Die Taktung im Leben Marks etwa, die auf konkrete Weise Klassenbewusstsein und Ökonomie in Bezug setzt, und auf die Claire Henry in ihrem Artikel »The Temporal Resistance of Kelly Reichardt’s Cinema«, hinweist:

Mark’s frugal and diligent attitude toward time echoes the time-thrift and time-discipline that emerged from the conjunction of the Puritan ethic with the capitalist mode of production […]. The socialization of clock-time logic, which underpins Mark’s dutiful time-keeping, has roots in the strict time-discipline of Puritanism that spread out from the monasteries of medieval Europe.10

Vor diesem Hintergrund einer Ökonomisierung von Zeit spielt sich der Konflikt von Kurt und Mark ab, die jeweiligen Lebensmodelle zu hinterfragen und sich auf ein neues Verhältnis zu Zeit und eine geteilte Zeitlichkeit einzulassen. So etwa greift in dieser Umgebung die Vorstellung ständiger Erreichbarkeit nicht, der Handyempfang bricht ab, das Auf- und Untergehen der Sonne gibt einen ganz eigenen Tagesablauf vor. Zurückgeworfen auf die Unbrauchbarkeit von streng getakteten Zeitabläufen offenbart sich vor allem für Mark, dass sein Alltag bisher kapitalistischen Zeitstrukturen unterworfen war: »[C]apitalist clock-time dominates in the hierarchy of temporalities, alienating, subordinating, colonizing, absorbing and/or marginalizing other conceptions and practices of time and concrete temporalities.«11 Die standardisierte Zeit, wie sie 1883 durch die Ausweitung der Industrie und eine Ausrichtung von unterschiedlichen Zeitzonen, bedingt durch den expandierenden transkontinentalen Zugverkehr, eingeführt wurde, veränderte nachhaltig moderne Existenz- und Erfahrungsweisen. Eine Entwicklung, die Karl Marx als eine Subsumption der Lebenszeit unter das Imperativ kapitalistischer Effizienz bedachte.12 Eine Entwicklung, die auch Elizabeth Freeman u. a. mit Rückgriff auf den Habitus-Begriff Pierre Bourdieus und die Beobachtungen zu Trauer und Melancholie bei Dana Luciano als Chrononormativität bezeichnet hat: »Chrononormativity is a mode of implantation, a technique by which institutional forces come to seem like somatic facts. Schedules, calendars, time zones, and even wristwatches inculcate […] forms of temporal experience that seem natural to those whom they privilege.«13

Diese Naturalisierung von Zeitläufen und Taktungen wird somit nicht nur auf individueller, privater Ebene erfahrbar, sondern strukturiert im biopolitischen Sinne, verstanden als Chronobiopolitik die Subjektivierung und Herausbildung von Bevölkerungen. In einer Verzahnung von Ökonomie und Produktivität mit Reproduktion und Sexualität beobachtet Freeman die Narrativisierung eines normativen und vergeschlechtlichten Fortschrittdenkens und die Privilegierung danach ausgerichteter Lebensläufe: »In the eyes of the state, this sequence of socioeconomically ›productive‹ moments is what it means to have a life at all.«14 Lebensfähigkeit (oder genauer gesagt die Frage danach, welches Leben anerkannt wird) prägt als Thematisierung des richtigen Maßes und einer unterschiedlichen »Verortung« in der Zeit auch die Dynamik zwischen Kurt und Mark. Kurt, dessen Zukunft im Gegensatz zur Familienplanung Marks zu keiner Äußerung im Film findet, hält dieser Standardisierung seine eigene physikalische Theorie entgegen, wenn er deren zugrundeliegende Teleologie und Zielgerichtetheit zu entkräften versucht:

It’s like two mirrors moving through space and there’s a single atom moving between them, […] I get it on a fundamental level, the thing is, that the universe is falling, the entire universe is in the shape of a falling tear dropping down through space. […] Dropping down forever, it just doesn’t stop.

Seine beim gemeinsamen Lagerfeuer geäußerte Theorie vom Universum mutet wie eine Vermischung von unterschiedlichen physikalischen Modellen der Moderne an und mündet in ein Nachdenken über Raum-Zeit-Gefüge, das ihn in Tränen und Mark in Verwirrung zurücklässt. Doch diese Tränen sind nicht etwa (nur) einer zu unterstellenden Labilität und »Verrücktheit« zuzurechnen, sondern offenbaren auch in Marks abweisender und verstörter Reaktion einen berechtigten Zweifel an der Dominanz linear-kapitalistischer Zeitlichkeit. Der Film räumt diesen Überlegungen nicht nur Zeit ein und lässt sie im weiteren Verlauf des Gesprächs in die Trauer Kurts über ihre verlorene Freundschaft münden, sondern macht sie in der zweiten Hälfte des Films auch zu einem strukturierenden Mittel. Kurt führt Mark zu ihrem eigentlichen Ziel, die natürliche Bagby-Therme im Mount Hood Nationalpark, südöstlich von Portland. Die etwa zehnminütige Sequenz zeichnet sich nicht nur im Unterschied zum Rest des Films, sondern auch zu herkömmlichen Montage-Standards, durch einen collagenartigen Schnitt aus. Wir sehen die beiden Männer, wie sie die Therme betreten, die Becken mit Wasser füllen und sich entkleiden. Bis dahin waren die Kameraeinstellungen stets von den Handlungen und Perspektiven der Figuren motiviert, nun beginnt sich diese Verbindung zu lösen. Die einsetzende Entspannung lässt Detailaufnahmen von fließendem Wasser, von Pflanzen und Tieren, aber auch Blicke auf das Holz und die Architektur der Therme zu. Nach einem zweiten Monolog Kurts, den er mit dem titelgebenden Satz »Sorrow is nothing but old joy« beendet, stellt er sich hinter Marks Wasserbecken, legt die Hände auf dessen Schultern und beginnt, ihn zu massieren. Die Aufnahmen in der Therme werden mit Bildern von den Prozessen und der Zeitlichkeit der sie umgebenen Natur gegengeschnitten. So geht die auch als sinnlich zu lesende Bewegung von Marks ins Becken gleitenden Hand (an dessen Finger sein Ehering zentral ins Bild gesetzt ist) über in das Plätschern des Wassers in der Therme, auf Blätterwerk fallende Regentropfen im Wald bis hin zu dem wilden Strom eines Wasserfalls.

Die Szene des Films fand in der kritischen Besprechung vor allem hinsichtlich einer möglichen Einschätzung als LGBT-Film Beachtung. Ohne diese Deutung konkret abzustreiten, war Kelly Reichardt jedoch von anderen Fragen nach Männlichkeit, nämlich einer impliziten Verbindung zur politisch-normativen Dimension, inspiriert:

Reichardt has said that Old Joy gave her a chance to explore the softer expressions of masculinity found among contemporary Northwest American men; she has been more ambiguous about whether she intended any homoerotic undertones, though she admits that the film, which otherwise finds meaning in its elisions, allows for such a reading.15

So bestärkt die Szene in der Therme mit Rückblick auf die vorangegangene Fehlkommunikation der beiden Männer eine immer wieder im Film angedeutete Kritik an der Impotenz liberaler Politik. Die von Kurt initiierte Intimität zu Mark (die Szene lässt die Möglichkeit einer vorangegangenen Beziehung offen) vermag dem Gedanken von einer »alternativen Männlichkeit« durch ein Aussetzen der im Film präsentierten, chrononormativen Zeitabläufe (Marks Lebenslauf, Fortschrittsdenken der Moderne, Abwirtschaftung durch Erschließung und Industrialisierung von Natur) für kurze Zeit eine auch auf filmischer Ebene anders getaktete, geteilte Zeitlichkeit hinzuzufügen. Die Wildnis der Natur gewinnt somit in der zweiten Hälfte des Films eine andere Qualität, indem sie auch als Ort queeren Begehrens und alternativer Zeitlichkeiten präsentiert wird. Eine ähnlich ambivalente Lesart der Natur als queerer Raum (und des Films als Möglichkeitsraum) kann auch bei einem weiteren Vertreter des »Slow-Cinema«, Apichatpong Weerasethakul, beobachtet werden. Während dessen Figuren in Filmen wie Blissfully Yours jedoch Begehren ausformulieren und queere Zeitlichkeit in traumartiger Weise verstärkt die Handlung strukturiert,16 bleibt dieser Bezug in Old Joy nur angedeutet und labil, um nicht zu sagen, prekär. Kurt und Mark werden zum Ende des Films und mit der Rückkehr in ihre jeweiligen Leben erneut mit einer Taktung von Zeit konfrontiert, die für Mark die weitere Lebensplanung bedeutet und für Kurt eine Aussicht auf Zukunft offen lässt (oder durch sein melancholisches Verhaftetsein an die Vergangenheit verstellt). Wir sehen, wie er – unklar, ob wartend, verloren oder ohne Bleibe – durch die nächtlichen Straßen der Stadt wandert.

Prekär und nicht-human: Wendy and Lucy

Auch Wendy and Lucy ist ein »Film seiner Zeit«. Er wurde während der George W. Bush-Regierung gedreht und war ausschlaggebend von Hurricane Katrina und dem politischen wie medialen Umgang mit Betroffenen beeinflusst. In einem Gespräch mit Gus Van Sant sagte Reichardt:

The seeds of Wendy and Lucy happened shortly after Hurricane Katrina, after hearing talk about people pulling themselves up by their bootstrap and hearing the presumption that people’s lives were so precarious due to some laziness on their part. Jon [Drehbuchautor Jonathan Raymond, P.H.] and I were musing on the idea of having no net – let’s say your bootstraps floated away – how do you get out of your situation totally on your own without help from the government?17

In seiner Verwendung von langen Aufnahmen und der Fokussierung auf Figuren am Rande der Gesellschaft vom italienischen Neorealismus beeinflusst, nimmt der Film eine junge obdachlose Frau in den Blick. Wendy stellt eine Figur mit wenigen Rechten dar, die auf der Durchreise nach Alaska ist, um dort einen Job in einer Fischerei anzutreten. Zusehends wird sie mit dem Wegfall auch dieser Option konfrontiert. Michelle Williams spielt Wendy als androgyne Person, deren Äußeres zwischen Verletzlichkeit und Härte changiert. In ritualisierten Handlungen, wie dem Sich-Waschen in einer Tankstellentoilette, der täglichen Reise- und Finanzplanung oder der Nahrungsbeschaffung für sich und für ihre Hündin, Lucy, versucht Wendy eine körperliche und psychische Unversehrtheit aufrechtzuerhalten. Es ist dieser Kampf um einen Mindeststandard, der schließlich die Handlung in Gang setzt und Wendys prekären Status offenlegt. Ihr Auto bleibt in einer Kleinstadt Oregons liegen und ihr fehlt das nötige Geld für eine Reparatur. Um Lucy weiterhin versorgen zu können, entschließt sie sich, Hundefutter in einem Supermarkt zu stehlen. Eine Festnahme und Registrierung bei der Polizei trennen sie schließlich von Lucy, die bei ihrer Wiederkehr nicht mehr vor dem Laden angebunden ist. Die Handlung des Films verfolgt sie im weiteren Verlauf bei dem Versuch, ihren Hund zurückzubekommen. Der Sicherheitsmann des Parkplatzes, von dem sie zu Beginn des Films noch verwiesen wurde, gibt ihr den Kontakt zu einem Tierheim. Lucy hat bereits neue Besitzer*innen und der Film endet mit einem Abschied und dem Versprechen Wendys, zurückzukommen. Das Auto, dessen Reparatur schließlich seinen Wert übersteigen würde, wird zugunsten des nächsten nach Norden fahrenden Zuges zurückgelassen.

Wie Katherine Fusco und Nicole Seymour in der Besprechung des Films in ihrer Monographie zu Kelly Reichardt feststellen, zeigt uns Reichardt Wendy nie in einem verorteten Status oder mit zielgerichteter Mobilität – so bekommen wir auch nicht ihren Heimatort Indiana, aus dem sie laut Kennzeichen zu kommen scheint, zu sehen oder können uns von dem tatsächlich intakten und fahrtüchtigen Zustand ihres Autos überzeugen.18 Gleichzeitig ist Wendy in ständiger Rastlosigkeit, eingefangen in Totalen oder Halbtotalen, in denen sie im Vergleich zu ihrer Umwelt entweder verloren klein erscheint, an die Grenzen des Bildkaders gedrängt oder von Objekten und Menschen verdeckt wird. Es sind textuell dichte und unruhig strukturierte Bilder, die nur in einzelnen Szenen der größten Nähe zu Wendy eine klare Trennung von Figur und Hintergrund durch eine geringere Schärfentiefe zulassen.19 Und auch die Topographie des Films führt sie immer wieder an dieselben, sich als Sackgassen herausstellenden Orte, an denen ihr nur weitere leere Versprechen gegeben werden. Der Film verzichtet auf eine zeitliche oder räumliche Einordnung und somit auf ein Äußeres, von dem aus so etwas wie Reintegration denkbar wäre. Die Frage nach einer gemeinschaftlichen Verbundenheit, die bereits im Titel anklingt, durchzieht den gesamten Film und betrifft neben einem fehlenden Bezug von Wendy zu anderen Figuren vor allem auch ihre von einem fundamentalen Bruch gekennzeichnete Beziehung zu dieser Stadt nahe Portland, Oregon, als Ort US-amerikanischer Industrie. Während der pazifische Nordwesten bereits in Old Joy vom Zerfall des lokalen Arbeitsmarktes und einer sich daran entzündenden politischen Radikalisierung geprägt war, kommt dieses Thema in Wendy and Lucy noch deutlicher zum Tragen: »The environment’s stagnancy is mirrored, if unknowingly, by Wendy herself, as well as by the newly precarious white working class with which she identifies […] although Wendy doesn’t ›live [t]here,‹ she also doesn’t live anywhere else.«20 Die Gewalt des sich nicht einlösenden US-amerikanischen Traums geht mit einer Anonymisierung und einer zunehmenden Ökonomisierung auch sozialer Beziehungen einher, sodass persönliche Zuwendungen immer auch von weiterführenden Interessen überlagert scheinen:

Alle diese Gestalten verhalten sich affirmativ zum Kapitalismus. Sie stabilisieren die Eigentumsgesetze oder haben sich einen Ort, und sei es der eines entrückten Bewusstseins, in dieser Marktwirtschaft erkauft. Reichardt lässt Wendy völlig außerhalb dieser symbolischen Ordnungen wandeln, sie hat keinen Anteil an dem, was ihr begegnet.21

Die Ökonomisierung der filmischen Welt Wendys, wie auch die von ihr immer wieder aufgesuchten, auf Mono-Funktionalität und Zeitlosigkeit reduzierten Nicht-Orte wie die Tankstelle oder der Supermarkt werden in rastlosen Bildern eingefangen. Selbst Hilfeleistungen werden von Wendy erst gar nicht angenommen, aus Angst, sich – im schlimmsten Fall finanziell – zu verpflichten.

Der Prolog des Films verfolgt in einer totalen Kamerafahrt Wendy und Lucy beim gemeinsamen Spiel des »Rufen und Herkommens«, des Stöcke-Holens durch den Wald und nimmt die Handlung des Films, also das Verschwinden und die Suche nach Lucy, bereits vorweg. Er drückt den Bezug ihrer Figur zu einer ökonomisierten Umwelt auch auf filmisch-paradoxe Weise aus. Die Szene wird von dem Summen eines, in den Credits als »Wendy’s Theme Music« betitelten, Liedes begleitet. Als Voiceover über die Handlungen und die in der Szene gesprochenen Worte Wendys gelegt, führt es einen Bruch ein. Es ist nicht ganz klar, wer diese Melodie summt (der Klang der Stimme legt Wendy selbst nahe) und aus welcher Zeitlichkeit heraus wir als Zuschauer*innen auf dieses Bild blicken. Die Musik wird an späterer Stelle des Films, im Supermarkt, noch einmal zu hören sein und lässt die Frage aufkommen, ob die Melodie (die für eine Hintergrundmusik im Supermarkt fast zu melancholisch ist), Wendy beeinflusst hat oder ob es sich um eine filmische Sichtbarmachung und Darstellung ihrer Gedanken und Vorstellungen handelt. Schließlich erinnert sie jedoch auch an das von Gilles Deleuze und Félix Guattari in »Tausend Plateaus« beschriebene Ritornell:

Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, daß das Kind springt, während es singt, daß es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen.22

Als kleine Melodie oder Refrain dient es einem ängstlichen Kind im Dunkeln zur Beruhigung und schafft einen Ansatz von Ordnung im Chaos, es schafft ein Zuhause. Das Ritornell führt laut Deleuze und Guattari jedoch nicht etwa zu einer örtlichen Eingrenzung oder Festlegung, sondern zur rhythmischen Bildung eines Territoriums und zur Deterritorialisierung, und damit zu einer Intensivierung. Dies geht unmittelbar mit einem »Sturz nach außen« dieses Ritornells, dieser kreisenden und sich wiederholenden Bewegung, einher – bis zu dessen Ausbruch, einer Improvisation und Öffnung. Mit dieser Lesart nimmt der Prolog somit nicht nur die Suche Wendys nach Lucy vorweg, sondern leitet auch eine Wiederholung der Anrufung und des sich stetig bildenden Bezugs zwischen beiden ein. Anstatt Wendy als Mensch in Abspaltung vom Tier zu affirmieren, zeigt uns Reichardt eine auch auf filmischer Ebene zu beobachtende Kodependenz, die als queer gelesen werden kann und sich in erster Linie auf zeitliche Weise ausdrückt.23 Denn Wendy und Lucy teilen Rhythmen und Gewohnheiten, während ihre gegenseitige Angewiesenheit gleichzeitig auch Grund und Auslöser für die Krise des Films, ihre Trennung, ist. Gegen eine Logik von Präsenz und Repräsentation setzt Reichardt am Kulminationspunkt der Handlung eine Sequenz der Suche und eine Folge von Kameraschwenks ein, die als Bewegungen den Verlust, aber auch eine mögliche alternative Zeitlichkeit denkbar machen. Wir sehen, wie Wendy Suchzettel mit einem Foto Lucys und der Überschrift »I’m lost!« anfertigt, aufgenommen in Einstellungen, in denen das Foto zunächst verstellt und damit eine eindeutige Zuordnung darüber verhindert wird, wer hier von wessen Verlust spricht. Eine Einstellung zeigt, wie Wendy einen solchen Zettel an eine Fensterscheibe klebt, durch die ein verlassener Wartesaal zu sehen ist (um was für ein Gebäude oder Geschäft es sich handelt, ist unklar). Die Reflektion des Fensters kündigt eine Uneindeutigkeit der Perspektive an, die sich auch auf den folgenden Kameraschwenk überträgt.

Abb. 2. Film-Still, , Regie: Kelly Reichardt
            (Film Science, Glass Eye Pix, 2008),
            Screenshot, Copyright Filmgalerie 451, 2020.
Abb. 2. Film-Still, Wendy and Lucy, Regie: Kelly Reichardt (Film Science, Glass Eye Pix, 2008), Screenshot, Copyright Filmgalerie 451, 2020.

In einer zuvor seltenen Trennung der Perspektiven ist zunächst der zurückgelassene Zettel zu sehen. Die Kamera lässt Wendy aus dem Bild treten und folgt ihr mit einem leicht verzögerten Schwenk, bis wir sie erneut mittig im Bildkader sehen (s. Abb. 2). Sie ist am Gebäude vorbei in einen Hof gegangen und in einiger Entfernung von der Kamera vor einem Holzzaun stehen geblieben. Wir sehen nicht, was sie sieht und doch lässt ihr Ruf nach Lucy, und dessen Tonalität, eine Verwirrung entstehen. An einer weiteren Stelle der gleichen Sequenz sehen wir sie bei Tag wieder inmitten einer Waldlandschaft stehen. Aufmerksam geworden durch Geräusche im Dickicht dreht sich Wendy erwartungsvoll um und ruft erneut nach Lucy. Wie eine geisterhafte Präsenz durchzieht diese den dritten Akt des Films und wird sozusagen von Wendy herbeigerufen. In Lucys Verschwinden spiegelt sich am deutlichsten Wendys Prekarität und gleichzeitig generiert der Film durch die zunehmende Uneindeutigkeit einer Trennung eine selbst prekär werdende Koexistenz von Mensch und Tier und eine Inkorporierung bei gleichzeitigem Verlust. Dass uns das Bild durch seine Uneindeutigkeit nicht den Effekt von Wendys Anrufung zeigt und wir Lucy nicht zu sehen bekommen, ermöglicht jedoch, um erneut mit Deleuze und Guattari zu sprechen, eine Autonomie des filmischen Bildes und ein Expressiv-Werden des sich wiederholenden Spiels. Es ist sodann mehr als eine Wiederholung oder Variation, es ist eine territorialisierende rhythmische Figur, die entsteht, »wenn wir nicht mehr die einfache Situation eines Rhythmus vor uns haben, der mit einer Person, einer Figur, einem Rhythmus oder einem Impuls verbunden ist: jetzt ist der Rhythmus selber die ganze Figur und kann daher konstant bleiben, aber auch zunehmen oder abnehmen.«24 Die Anrufung Lucys löst sich, wird zu einem Motiv und die Kamera liefert somit eine weitere Bewegung, die der territorialen Markierung; Wendy schafft sich in diesem Gefüge eine Bleibe.

Zeitreisen: Certain Women

Der eingangs besprochene Film Certain Women ist der erste, bei dem Reichardt als alleinige Drehbuchautorin verantwortlich zeichnete. In den Episoden des Films vereint sie die auch in Old Joy und Wendy and Lucy behandelten Themen von Verortung und Ortlosigkeit, Chrononormativität als Subjektivierungsweisen durch Zeit sowie eine sich hieraus ableitende Prekarität, verstanden als ein Aus-der-Zeit-Fallen oder ein die Zukunft versperrendes Verhaftetsein mit der Vergangenheit (auch wenn der Film im Gegensatz zu den beiden anderen deutlich weniger konkrete politische Bezüge macht). An dieser Stelle lohnt es sich, auf die dritte Episode mit Jamie und Beth zurückzukommen. Beide Frauen sind wie Kurt, Mark oder Wendy, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von einem bestimmten Rhythmus getrieben. Beth ist eine junge Anwältin, die einen Abendkurs zur Rechtslage von Schullehrer*innen aus finanziellen Gründen angenommen hat und sich der vierstündigen Hin- und Rückfahrt von ihrem Wohnort in Livingston bis in die Kleinstadt Belfry nicht bewusst war. Sie wird von Kristen Stewart als nervöse und ernste, unsichere Frau dargestellt. Diese Unsicherheit überträgt sich auch auf ihr Auftreten im Kurs. Die Nachfragen der Lehrer*innen übersteigen sichtlich ihr Vermögen und Wissen. Von stetigem Zeitdruck getrieben, lässt sie sich nur widerwillig auf die Treffen mit Jamie im Diner ein; die Zeit reicht kaum, Gabel und Messer auszupacken oder ihren Burger vollständig zu essen, geschweige denn sich wirklich auf ein Gespräch einzulassen. Stattdessen kreisen ihre Gedanken und Sätze um die strapaziöse Rückfahrt nach Livingston und ihren zweiten/ersten Job in einer Kanzlei, den sie bereits am nächsten Morgen wieder wird antreten müssen. Ihr gegenüber sitzt die Farmarbeiterin Jamie, die aus Neugier zu dem Kurs gekommen ist und ruhig und gelassen erscheint, für die sich jedoch die Kapitalisierung von Zeit auf ganz andere Weise äußert. Einen ersten Eindruck von ihr gewinnen wir durch eine Vielzahl an wiederholten Bewegungsabläufen, die ihr der Job und das Leben auf der Ranch aufzwingen. Wir erfahren nicht, woher sie kommt oder wie sie als Helferin dort gelandet ist. Sie ist schweigsam, ihr unausgesprochenes Verlangen kommt jedoch in dem Schauen einer abendlichen Science-Fiction-Fernsehshow um die Erkundung ferner Welten zum Ausdruck oder äußert sich in dem ziellosen Umherfahren in ihrem Truck auf der Suche nach Abwechslung und zwischenmenschlichen Kontakten. In ihrer Einsamkeit und Langeweile erscheint sie fremd und dieser Welt nicht zugehörig. Gleichzeitig gibt uns Reichardt einen Eindruck von Jamies ökonomischer Realität, wenn sie den Burger im Diner ablehnt und stattdessen anschließend im nächstgelegenen Supermarkt die günstige, abgepackte Version kauft (den sie alleine verzehrt).

In seltenen Momenten des Zusammenkommens der Figuren und des gegenseitigen Einstellens aufeinander lässt Reichardt andere Zeitläufe entstehen. Dies wird bereits in einer der ersten Einstellungen dieser Episode angedeutet, in der die Kamera in einer Nahaufnahme nur auf die Füße Jamies gerichtet ist. Sie vollziehen einen kleinen Tanz. Noch können wir ihren Vor- und Rückwärtsbewegungen keinen Kontext zuordnen, bis Jamie im Bild auftaucht und sich herausstellt, dass sie sich in einem Stall befindet und mit der Pflege eines Pferdes beschäftigt ist. Das Geräusch von dessen Hufen auf der Straße gibt auch in der einzigen Szene, in der sich Jamie und Beth körperlich näherkommen, einen eigenen Takt vor. Jamie hat den Truck zurückgelassen und ist auf dem Pferd zum Diner gekommen. Beth steigt nach anfänglichem Zögern mit auf das Pferd und in einer langen Einstellung sehen wir, wie beide sich auf diese vorgegebene, erzwungene Langsamkeit und somit auch aufeinander einstellen müssen:

This horse ride is a moment of silent communication between the characters in which they are sharing the same temporality, suspending their usual routines to give into the slow clip-clop of the horse’s pace. The intersubjectivity of temporalities can be a way of overcoming the drives toward disconnection under capitalism.25

Die Notwendigkeit, sich (vor allem zeitlich) aufeinander einzustellen, zeichnet jede der drei beschriebenen Filme aus. Doch die Beziehung von Jamie und Beth ist von einem stetigen Aufeinander-Zukommen und Abwenden geprägt, wobei wir in erster Linie Jamies Perspektive und eine gewisse Unsicherheit über Beths Motivation und ihre Gefühle teilen. So muss Jamie eines Abends feststellen, dass Beth ihre Stelle an der Abendschule aufgrund des strapaziösen Arbeitswegs gekündigt hat. Sie beschließt, ihr noch in der Nacht mit dem Truck nach Livingston zu folgen, weil sie, wie sie ihr bei der anschließenden Begegnung am nächsten Morgen sagt, die Möglichkeit nicht zulassen wollte, sie nie mehr gesehen zu haben. Jamie trifft Beth auf dem Parkplatz der Kanzlei an, bei der sie arbeitet. Diese ist erstaunt über Jamies Verhalten, diese plötzliche Gefühlsäußerung und das indirekte Liebesbekenntnis und weist sie ab. Wie eingangs geschildert begleiten wir Jamie in einer zweieinhalb-minütigen Szene bei der Rückfahrt von Livingston nach Belfry. Die Szene besteht aus der halbnahen Frontaleinstellung auf Jamies Gesicht und einem subjektiven, letzten Blick aus dem Auto auf Beth sowie Aufnahmen von der Landschaft. Das Sound-Design suggerierte stets auch eine Nähe zum subjektiven Empfinden der Figur. So war die Sequenz, die zeigte, wie Jamie in Livingston ankam und durch die nächtlichen Straßen der Stadt wanderte, vor allem durch das komplexe Sound-Design geprägt. Die Fremdheit der Figur übertrug sich auf den Ort und die Unruhe ihrer Erwartungshaltung, führte zu einer Überhöhung von Geräuschen des Windes und des Verkehrs sowie der Signale des sie umgebenen Zugverkehrs. Diese Verbindung auf der Ebene des Sounds wird an dieser Stelle schließlich abgelöst von dem einzigen Musikeinsatz im Film.

Die Weise, wie sich Jamies Enttäuschung über die Ablehnung durch Beth schließlich in der abweichenden Bewegung, dem Abdriften ihres Autos von der Straße, äußert, macht – auf dem Hintergrund der Beobachtungen in Old Joy und Wendy and Lucy – auf eine letzte, zeitliche Konstruktion aufmerksam, durch die in Reichardts Film der Mangel an Gleichzeitigkeit und Nähe bestritten werden kann. Bereits die vierstündige Fahrt von Belfry nach Livingston versetzt Jamie in eine, auch körperlich empfundene, Nähe zu Beth. Auch wir als Zuschauer*innen sehen nun zum ersten Mal die Strecke und können die von Beth wiederholt geschilderte Dauer und Anstrengung der langen Autofahrt nachvollziehen. In diesem Ineinanderfallen der ambivalenten, sowohl von Begehren als auch von Erschöpfung geprägten, Zeitlichkeit kann vielleicht ein erotohistoriographisches Potential entdeckt werden, wie es Elizabeth Freeman in Time Binds schildert. Das Abdriften von Jamies Auto ist sodann kein Moment des Scheiterns, sondern eine zeitliche Entsprechung und, in gewisser Weise auch erleichternde oder gar befriedigende Vollendung einer gemeinsamen, einer geteilten Erfahrung.

Abschließend lässt sich dieses Abkommen von der Straße als Teil einer Reihe von Bewegungen in den Filmen Kelly Reichardts erkennen. Es handelt sich um Formen der Bewegung in Gesten oder Wiederholungen; Bewegungen der Figuren, über die Montage oder aber auch Bewegungen der Kamera selbst. Sie initiieren einen Bruch mit und in der (filmischen) Zeit, synchronisieren oder bringen die Figuren über unterschiedliche Zeitlichkeiten zusammen. Als Bruch mit normativen Zeitabläufen, die auf ein Maximum an Produktivität und Reproduktion ausgerichtet sind, spiegeln sie das stets zugrundeliegende queere Begehren der Figuren auch auf der Ebene erfahrener und gelebter Zeitlichkeit. Diese Bewegungen sind gleichzeitig Ausdruck der Macht von Film, hegemonialen und machtvollen Konzepten von Zeit andere, neue und queere Zeitlichkeiten entgegenzusetzen. Den in den Filmen deutlich werdenden Krisen von Kommunikation und Zusammenhalt sowie der fundamentalen Trennung der Figuren voneinander werden neue Zeit- und Raumgefüge entgegengestellt, in denen nicht nur alternative Zukunftsvisionen formuliert, sondern auch gemeinsame Gegenwarten gelebt werden können. Zuletzt schaffen diese unterschiedlichen Konstruktionen von Zeit so etwas wie eine Emotionalisierung, die vor allem das Potential der Filme Reichardts unterstreicht, zu bewegen. Sie schafft ein Kino, das seine politische Macht aus einer direkten Ansprache, aber auch aus einer Kooperation mit den Zuschauer*innen bezieht. Die häufig besprochene Langsamkeit ihrer Filme ist Teil dieses Projekts, Zeit anders zu erfahren und erfahrbar zu machen.

Anmerkungen

  1. Certain Women, Regie: Kelly Reichardt (Stage 6 Films, 2016).
  2. Gunnar Landsgesell, Michael Pekler und Andreas Ungerböck erkennen in den Filmen Reichardts, aber auch etwa in denen von Ramin Bahrani oder Debra Granik einen neuen, US-amerikanischen und unabhängigen Realismus, dessen politische Ausrichtung sich nicht nur in der Wahl der Geschichten, sondern auch in einer »Entleerung« an Bildern ausprägt. Die Unabhängigkeit und die geringen Budgets der Filmproduktionen spiegeln in gewisser Weise die Prekarität der Protagonist*innen. Vgl. Gunnar Landsgesell, Michael Pekler und Andreas Ungerböck, Real America: Neuer Realismus im US-Kino (Marburg: Schüren, 2012), S. 42.
  3. Poison, Regie: Todd Haynes (Bronze Eye Productions, 1991).
  4. Old Joy, Regie: Kelly Reichardt (Film Science, Van Hoy/Knudsen Productions, Washington Square Films, 2006)
  5. In einem Interview mit dem Austin Chronicle beschreibt der Produzent Anish Savjani, der mit Vincent Savino gemeinsam die Produktionsfirma Film Science gegründet hat, die langjährige und respektvolle Zusammenarbeit mit Kelly Reichardt. Vgl. Marc Savlov, »Post-Production: Anish Savjani on Where He’s Been and Where He Thinks the Industry Is Going Next«, The Austin Chronicle, 25. Februar 2011 <https://www.austinchronicle.com/screens/2011-02-25/post-production/> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  6. Wendy and Lucy, Regie: Kelly Reichardt (Film Science, Glass Eye Pix, 2008).
  7. River of Grass, Regie: Kelly Reichardt (Good Machine, 1994).
  8. Dennis Lim, »Change Is a Force of Nature«, The New York Times, 26. März 2006 <https://www.nytimes.com/2006/03/26/movies/change-is-a-force-of-nature.html> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  9. Ed Halter, »Old Joy: Northwest Passages«, The Current, 12. Dezember 2019 <https://www.criterion.com/current/posts/6728-old-joy-northwest-passages> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  10. Claire Henry, »The Temporal Resistance of Kelly Reichardt’s Cinema«, Open Cultural Studies, 2.1 (2018), S. 486–99, hier S. 488 <https://doi.org/10.1515/culture-2018-0044>.
  11. Ebd., S. 487.
  12. Raj Kollmorgen, »Die Zeitlosigkeit des Kapitalismus – Eine Gegenlektüre von Marx«, in Chronotopographien: Agency in ZeitRäumen, hg. v. Britta Krause (Frankfurt a. M.: Transpekte, 2006), S. 21–24, hier S. 24.
  13. Elizabeth Freeman, Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories (Durham, NC: Duke University Press, 2010), S. 3.
  14. Ebd., S. 4–5.
  15. Lim, »Change Is a Force of Nature«.
  16. Blissfully Yours, Regie: Apichatpong Weerasethakul (Anna Sanders Films, Kick the Machine, La-ong Dao, 2002).
  17. Gus Van Sant und Kelly Reichardt, »Kelly Reichardt«, BOMB, 105 (2008), S. 76–81 <https://bombmagazine.org/articles/kelly-reichardt-1/> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  18. Katherine Fusco und Nicole Seymour, Kelly Reichardt (Urbana: University of Illinois Press, 2017), S. 38.
  19. Kameramann Sam Levy, Production Designer Ryan Warren Smith und Kostüm-Designerin Amanda Needham haben im Gespräch mit Interiors Journal über den Film betont, wie wichtig es war, Wendy durch die Inszenierung, aber auch durch ihre Kleidung dieser Umgebung komplementär anzugleichen; siehe Interiors Journal, »Interiors Journal Explores Location and Space in Kelly Reichardt’s Wendy and Lucy«, MovieMaker, 22. Juli 2013 <https://www.moviemaker.com/wendy-and-lucy-interiors-journal/> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  20. Fusco und Seymour, Kelly Reichardt, S. 40.
  21. Landsgesell, Pekler und Ungerböck, Real America, S. 106.
  22. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Ronald Vouillé und Gabriele Ricke (Berlin: Merve, 1992), S. 424.
  23. An dieser Stelle sei auf die Arbeit von Ryan Lee Walter, »Animal Possessions: Queer Time and Queer Morphologies in the Cinema of Kelly Reichardt« (unveröffentlichte Master-Thesis, Georgetown University, 2012) verwiesen, in der Walter auf das queere Potential der Bindung von Wendy und Lucy und ihres gleichzeitigen Verlustes zu sprechen kommt <http://hdl.handle.net/10822/557579> [Zugriff: 4. Juni 2021].
  24. Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 434.
  25. Henry, »The Temporal Resistance of Kelly Reichardt’s Cinema«, S. 497.

Quellenangaben

Bibliografie

  1. Deleuze, Gilles und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Ronald Vouillé und Gabriele Ricke (Berlin: Merve, 1992)
  2. Freeman, Elizabeth, Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories (Durham, NC: Duke University Press, 2010) <https://doi.org/10.1215/9780822393184>
  3. Fusco, Katherine und Nicole Seymour, Kelly Reichardt (Urbana: University of Illinois Press, 2017) <https://doi.org/10.5622/illinois/9780252041242.001.0001>
  4. Halter, Ed, »Old Joy: Northwest Passages«, The Current, 12. Dezember 2019 <https://www.criterion.com/current/posts/6728-old-joy-northwest-passages> [Zugriff: 4. Juni 2021]
  5. Henry, Claire, »The Temporal Resistance of Kelly Reichardt’s Cinema«, Open Cultural Studies, 2.1 (2018), S. 486–99 <https://doi.org/10.1515/culture-2018-0044>
  6. Interiors Journal, »Interiors Journal Explores Location and Space in Kelly Reichardt’s Wendy and Lucy«, MovieMaker, 22. Juli 2013 <https://www.moviemaker.com/wendy-and-lucy-interiors-journal/> [Zugriff: 4. Juni 2021]
  7. Kollmorgen, Raj, »Die Zeitlosigkeit des Kapitalismus – Eine Gegenlektüre von Marx«, in Chronotopographien: Agency in ZeitRäumen, hg. v. Britta Krause (Frankfurt a. M.: Transpekte, 2006)
  8. Landsgesell, Gunnar, Michael Pekler und Andreas Ungerböck, Real America: Neuer Realismus im US-Kino (Marburg: Schüren, 2012)
  9. Lim, Dennis, »Change Is a Force of Nature«, The New York Times, 26. März 2006 <https://www.nytimes.com/2006/03/26/movies/change-is-a-force-of-nature.html> [Zugriff: 4. Juni 2021]
  10. Savlov, Marc, »Post-Production: Anish Savjani on Where He’s Been and Where He Thinks the Industry Is Going Next«, The Austin Chronicle, 25. Februar 2011 <https://www.austinchronicle.com/screens/2011-02-25/post-production/> [Zugriff: 4. Juni 2021]
  11. Van Sant, Gus und Kelly Reichardt, »Kelly Reichardt«, BOMB, 105 (2008), S. 76–81 <https://bombmagazine.org/articles/kelly-reichardt-1/> [Zugriff: 4. Juni 2021]
  12. Walter, Ryan Lee, »Animal Possessions: Queer Time and Queer Morphologies in the Cinema of Kelly Reichardt« (unveröffentlichte Master-Thesis, Georgetown University, 2012) <http://hdl.handle.net/10822/557579> [Zugriff: 4. Juni 2021]

Filmografie

  1. Blissfully Yours, Regie: Apichatpong Weerasethakul (Anna Sanders Films, Kick the Machine, La-ong Dao, 2002)
  2. Certain Women, Regie: Kelly Reichardt (Stage 6 Films, 2016)
  3. Old Joy, Regie: Kelly Reichardt (Film Science, Van Hoy/Knudsen Productions, Washington Square Films, 2006)
  4. Poison, Regie: Todd Haynes (Bronze Eye Productions, 1991)
  5. River of Grass, Regie: Kelly Reichardt (Good Machine, 1994)
  6. Wendy and Lucy, Regie: Kelly Reichardt (Film Science, Glass Eye Pix, 2008)