Im Anschluss an eine queer-theoretische reparative Perspektive betrachte ich lustvolle Strategien des Überlebens in zwei Film- bzw. Videoarbeiten. Ming Wongs Lerne deutsch mit Petra von Kant (2007) und Cana Bilir-Meiers This Makes Me Want to Predict the Past (2019) erzeugen unvorhergesehene, lebenserhaltende und »transhistorische Beziehungen«. Beide respektieren dabei die mediale Lücke im Zugriff auf die Vergangenheit.
Schlagwörter: Reparativ; experimentelles Video; Rassismus; postmigrantisch; queere Zeitlichkeit
In ihrem Aufsatz »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is about You« setzt sich Eve Kosofsky Sedgwick für eine reparative Perspektive in den Queer Studies ein. Sedgwick bezieht sich auf die Objektbeziehungstheorie Melanie Kleins und überträgt deren allgemeine psychoanalytische Überlegungen auf die Situation systemisch und strukturell marginalisierter und unterdrückter Subjekte.1 Reparativ meint dabei die Art und Weise, wie »Individuen oder Communities erfolgreich einen Nährwert aus kulturellen Objekten gewinnen, selbst noch einer Kultur, deren erklärtes Interesse häufig nicht ist, sie zu erhalten« (selves and communities succeed in extracting sustenance from objects of a culture, even of a culture whose avowed desire has often been not to sustain them).2 Vor dem Hintergrund der AIDS-Krise fragt sie, was ein (Über-)Leben mit systemischer und struktureller Gewalt ermöglicht, und wie dabei sogar eine lustvolle Existenz möglich sein könnte. Eine solche reparative Perspektive erlaubt, die Aufmerksamkeit von den Ursachen und der Art der Gewalt wegzulenken, diese als ausreichend bekannt vorauszusetzen. So werden Kapazitäten frei, um ein anderes Wissen zum Vorschein zu bringen. Studien, die unter den Rubriken Queer Performance- und Queer Temporality-Studies gefasst werden können, haben im Anschluss an Sedgwick reparative Momente vor allem in Beziehungen zu Objekten der Vergangenheit gefunden. Reparative Praktiken, die Identifikation ermöglichen, trösten und nähren, erscheinen häufig »rückwärtsgewandt«.3 Beziehungen zu häufig negativ besetzten, anachronistischen Objekten scheinen ein besonderes reparatives Potenzial zu haben.
Im Folgenden betrachte ich zwei im deutschsprachigen Kontext entstandene Film- bzw. Videobeispiele in Hinblick auf ihre reparativen Strategien. In dem Video Lerne deutsch mit Petra von Kant stellt der Film-/Video- und Performancekünstler Ming Wong eine Beziehung zwischen sich selbst und der Hauptfigur aus Rainer Werner Fassbinders Spielfilm Die bitteren Tränen der Petra von Kant her.4 Zum Zeitpunkt des Videodrehs ist Wong dabei, seinen Lebensmittelpunkt in London aufzugeben und nach Berlin zu ziehen. Durch die Auseinandersetzung mit Fassbinders Film bereitet sich Wong auf seine neue Heimat und seine Existenz darin als schwuler, nicht-weißer Ausländer vor. Der Ausgangspunkt für den Kurzfilm This Makes Me Want to Predict the Past der Filmemacherin und Künstlerin Cana Bilir-Meier ist der rassistische Anschlag auf ein Einkaufszentrum in München 2016, bei dem neun nichtmehrheitsdeutsche Personen erschossen wurden.5 Bilir-Meier entwirft mit ihrem Film ein Raum und Zeit übergreifendes Beziehungsnetz von Subjekten, die in (postmigrantischer) Vergangenheit und Gegenwart nicht nur kollektiv rassistischer Gewalt ausgesetzt waren, sondern durch ein geteiltes Wissen um diese verbunden sind.
Die Arbeiten von Wong und Bilir-Meier stellen durch unterschiedliche Formen des Reenactments vergangener Figuren und Szenen transgressive, prekäre Beziehungen her. Sie sind prekär, weil sie auf überraschende Weise gender- und race-Kategorien unterlaufen (Lerne deutsch mit Petra von Kant) oder eine postmigrantische Geschichte aufrufen, die dem Druck dominanter Geschichtsschreibung widerstehen muss (This Makes Me Want to Predict the Past).6 Die Arbeiten beziehen ihre reparative Bedeutung und Kraft gerade aus dem Umstand, dass sie strukturell nicht vorgesehene »transhistorische Beziehungen«7 vorstellbar machen, das heißt, das Vorstellungsvermögen für lebenserhaltende Beziehungen erweitern. Dabei respektieren beide durch unterschiedliche formale und ästhetische Mittel die zeitliche und mediale Lücke, die einen direkten Zugriff auf die Vergangenheit verwehrt. Bemerkenswert ist auch, dass beide Arbeiten humorvoll und spielerisch sind. Das Herstellen transhistorischer Beziehungen erzeugt sichtliches Vergnügen, der prekäre Kontakt mit der Vergangenheit produziert eine Art sanfte Ekstase.
Lerne deutsch mit Petra von Kant prägt eine unentscheidbare Mischung aus Komik und Ernsthaftigkeit. Die Arbeit ist sehr lustig und kann zugleich ganz wörtlich genommen werden. In der Projektbeschreibung schreibt Wong:
With this work the artist rehearses going through the motions and emotions and articulating the words for situations that he believes he may encounter when he moves to Berlin as a post-35-year-old, single, gay, ethnic-minority mid-career artist – i.e. feeling bitter, desperate, or washed up. (»Ich bin im Arsch«)
With these tools, he will be armed with the right words and modes of expressions to communicate his feelings effectively to his potential German compatriots.8
Wong nähert sich der neuen Umgebung von außen, als Fremder und als solcher auf quasi anthropologische und historiografische Weise.9 Wong wurde mit Reinszenierungen klassischer Autorenfilme bekannt.10 In seinen Projekten verkörpert er oft selbst mehrere oder alle Figuren des Originals. Lerne deutsch mit Petra von Kant ist ein frühes Beispiel dieser Methode. Er erforscht darin die ihm fremde Kultur durch imitierende, expressive Verkörperung, Gestik, Mimik und Aussprache. Die Video-Version, auf die ich mich hier beziehe, zeigt im split screen das Original und Wongs Version nebeneinander.11 In Wongs Performances verschmelzen Original und Imitation miteinander, ohne dass das Original verschwindet. Die Figuren sind »co-extensive with one another, echoing each other formally and occasionally becoming one, while still retaining distinct outlines«.12
Links im Bild ist Fassbinders Original zu sehen. Petra von Kant (Margit Carstensen) kniet auf dem Teppichboden, vor einem Telefon und einer Flasche Gin, rechts befindet sich Wong in einer ähnlichen Position, mit den gleichen Requisiten (s. Abb. 1). Wong ist größer im Bild, sein Reenactment zeitlich leicht versetzt, als spräche Petra tatsächlich Sätze vor, die Wong zum Zweck des Übens wiederholt. Im Original ist die Einstellung dreigeteilt, eine weiße Wand rechts, ein weißer Wollteppich im Vordergrund und im Hintergrund eine Bildtapete, auf der eine beschnittene und stark vergrößerte Reproduktion von Nicolas Poussins Gemälde Midas und Bacchus (um 1624) zu sehen ist. Die Figuren in Die bitteren Tränen der Petra von Kant sind so im Raum positioniert, dass sie als Teil der Bildtapete erscheinen (s. Abb. 2 und Abb. 3).13
Lerne deutsch mit Petra von Kant konzentriert sich ganz auf die Figur der Petra – erfolgreiche, selbstständige Modedesignerin, die von ihrer jüngeren Partnerin Karin aus opportunistischen Gründen verlassen wurde. Durch Wongs Performance wirkt ihr Sprechen und Agieren wie vergrößert, zugleich verfremdet und deutlicher erkennbar.14 Im Video reinszeniert Wong die zentralen Geburtstagszenen, die in Fassbinders Original gegen Ende des Films zu sehen sind. Darin ist Petra zunächst allein in ihrem leergeräumten Studio/Schlafzimmer. Sie wartet verzweifelt auf einen Anruf von Karin, betrunken, monologisierend. Wong, auf ähnliche Weise wie Petra gekleidet und geschminkt, befindet sich ebenfalls in einem leeren Raum, nur mit Telefon und Ginflasche ausgestattet. Hingebungsvoll spricht er Petras verbale Ausbrüche nach, während diese gleichzeitig unterhalb des Bildausschnitts eingeblendet werden:
»O ich hasse, hasse, hasse dich. Ich hasse dich, ich hasse dich«
»Wenn ich nur sterben könnte. Einfach weg sein. Diese Schmerzen, ich halt’s nicht aus. Ich kann nicht mehr.«
»Dieses miese kleine Dreckschwein. Ich werd’s dir zeigen eines Tages. Ich mach dich so fertig, so fertig. Du sollst kriechen vor mir, du kleine Hure. Du sollst mir die Füße küssen.«
»Oh Mann, ich bin so im Arsch. Lieber Gott, womit hab ich das verdient. Womit bloß?«
»Ich liebe dich doch. Sei doch nicht so gemein, Karin. O Scheiße, scheiße, ich brauch dich so sehr.«
Petras Äußerungen wirken im Original krass, in Wongs Reenactment werden sie durch seinen Akzent zugleich stärker betont und durch die Verfremdung in ihrer Wirkung gemildert. Wong hat die Arbeit selbst explizit in den Kontext seines Umzugs von London, wo er Kunst studiert und bereits einige erfolgreiche Projekte durchgeführt hat, nach Berlin gestellt. Probeweise testet Wong anhand von Petra, wie es sich »in« einem anderen, »deutschen« Körper anfühlt. Dabei lernt er mehr als Sprache. Im Original benutzt Petra die Menschen um sie herum und die Menschen benutzen sie. Der Untertitel zum Film lautet »Ein Krankheitsfall«, für Wong ist sie »ein tragischer Clown«.15 Der Titel des Originals (»die bitteren Tränen«) stellt sie bloß. Wong dagegen nimmt sich Petra auf liebevolle Weise an, rettet sie vor Fassbinders Verurteilung und umarmt sie als queere Wahlverwandte. Dabei kommt auch eine komische Seite von Petra zum Vorschein, die schon im Original vorhanden, aber schwerer zu erkennen ist. Die Deutschlektion ist für Wong ein sichtliches Vergnügen und ihm dabei zuzusehen, bereitet ein großes Glücksgefühl. Was ist das für eine Lektion, die Petra Wong erteilt?
Wong inszeniert den Sprachunterricht als Drag-Performance, die hier zugleich gender und racial-Drag ist. Dabei handelt es sich nicht um »ethnic drag« im Sinne einer Projektion von Ängsten und Begehren auf ein rassifiziertes, stummes Andere aus einer dominanten Perspektive.16 Drag wirkt hier mit Sedgwick reparativ.17 Der Unterschied zwischen parasitärer und liebevoller Aneignung ergibt sich aus der strukturellen Positionierung der Beteiligten. José Esteban Muñoz beschreibt etwa die reparative Wirkung von gender- und race-Crossing bei James Baldwin. In The Devil Finds Work beschreibt Baldwin seine Zuneigung zu Bette Davis:
So here, now, was Bette Davis, on that Saturday afternoon, in close-up, over a champagne glass, pop-eyes popping. I was astounded. […] For here, before me, after all, was a movie star: white: and if she was white and a movie star, she was rich: and she was ugly […] Out of bewilderment, […] and also because I sensed something menacing and unhealthy (for me, certainly) in the face on the screen, I gave Davis’s skin the dead white greenish cast of something crawling from under a rock, but I was held, just the same, by the tense intelligence of the forehead, the disaster of the lips: and when she moved, she moved just like a nigger.18
Baldwin schwärmt nicht nur für Davis, sondern erkennt sich in ihr wieder, macht sie sich zu eigen. Die resignifizierte rassistische Verunglimpfung am Ende des Zitats signalisiert die strukturelle Kluft zwischen ihr und ihm, die Baldwin in einem skeptisch-liebevollen Akt der Aneignung Davis’ überwindet. Muñoz nennt dies Desidentifikation — die Identifikation mit Momenten oder Objekten, deren kulturelle Kodierung eine Verbindung mit dem desidentifizierenden Subjekt nicht vorsieht.19
Desidentifikation findet mit Objekten statt, zu denen ein strukturell »toxisches« Verhältnis besteht. Baldwin und Davis treffen in einer rassistisch strukturierten Umgebung aufeinander, etwas ist »menacing and unhealthy (for me, certainly)« (bedrohlich und gesundheitsschädlich). Baldwins Desidentifikation mit Davis unterliegt strukturell anderen Bedingungen als etwa die weißer schwuler Männer mit weißen weiblichen Stars. Sie steht Baldwin als schwarzer Mann nicht auf dieselbe Weise zur Identifikation zur Verfügung bzw. sie erfordert eine andere, größere Widerstände überwindende identifikatorische Leistung, eben Desidentifikation. Was hat Davis Baldwin zu bieten und was erfordert es von Baldwin, sie sich aneignen zu können? »Pop-eyes popping«, »disaster of the lips«, »she was ugly« — unter den gegebenen strukturellen Bedingungen erlaubt Davis’ vermeintliche Hässlichkeit Baldwin, sich in ihr wiederzuerkennen, eine Verbindung zu imaginieren, die ihn »hält«. Desidentifikation, so scheint es, ist hier auf der Grundlage möglich, dass das Objekt als zugleich begehrenswert und abjekt empfunden wird. Für Muñoz ist dies eine Frage des Überlebens: »A black and queer belle-lettres queen such as Baldwin finds something useful in the image; a certain survival strategy is made possible via this visual disidentification with Bette Davis and her freakish beauty.«20
Desidentifiziert sich Wong auf vergleichbare Weise mit Petra? Auch Petra ist »häßlich«, aber auf andere Weise. Carstensens Gesicht ist auffällig weiß geschminkt, ihre Haare wirken künstlich. Um den Hals trägt sie ein schwarzes Band mit einer großen roten Kunststoffblüte in der Mitte — eine versetzte Clownsnase (s. Abb. 4). Wongs Assoziation des »tragischen Clowns« ist bereits bei Fassbinder angelegt. Auf Poussins Gemälde fleht Midas Bacchus an, die Wunscherfüllung rückgängig zu machen, nach der alles, was er anfasst, zu Gold wird, was ihn reich, aber lebensunfähig macht.21 Die allegorische Kapitalismuskritik bildet buchstäblich den Hintergrund für Fassbinders Film, in dem alle privaten und intimen Verhältnisse, intergenerationellen Familienbeziehungen, Freundschaften und Liebesbeziehungen von ökonomischer Abhängigkeit und Ausbeutung deformiert sind. In der zweiten, von Wong reinszenierten Szene, werden die Geburtstagsgäste, Petras Teenager-Tochter Gabriele (Eva Mattes), ihre Mutter Valerie von Kant (Gisela Fackeldey) und ihre beste Freundin Sidonie von Grasenabb (Katrin Schaake) in einem exzessiven Höhepunkt wüst von Petra beschimpft (s. Abb. 5):
»Ihr ekelt mich alle so an. Ihr seid alle so verlogen. Kleine miese verlogene Schweine […]. Wenn ihr wüsstet, wie dreckig ihr seid. Lauter kleine Schmarotzer.« (Zur Mutter): »Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Finger krumm gemacht. Du hast dich zuerst von Vater aushalten lassen und dann von mir. Weißt du, was du bist für mich? Eine Hure, Mutter. Eine dreckige, elende, miese Hure.«
Im Unterschied zu den vorherigen Einstellungen imitiert Wongs Version das Original hier nicht in identischen Einstellungen. Anstatt von hinten ist Petra/Wong von vorn zu sehen, der Fokus bleibt auf ihrem/seinem Ausdruck. Petra lehrt Wong Lektionen in Negativität, bis zum Todeswunsch. Das Video endet damit, dass Petra/Wong auf dem Boden liegen, zum Teil auf dem Rücken wie ein Käfer mit Beinen und Armen in der Luft strampelnd (s. Abb. 6 und Abb. 7). Sie lallen:
»Haut doch ab […] Ich hab nichts mehr zu geben. Ich bin im Arsch. Gin, Gin, Marlene […] Ich möchte sterben, Mama. Ich möchte wirklich sterben. Für mich gibt’s nichts auf dieser Welt, für das es lohnt zu leben. Der Tod. Da ist alles ruhig. Und schön. Und friedlich, Mama. Alles friedlich. […] Man nimmt Tabletten, Mama. Tut sie in ein Glas mit Wasser. Schluckts hinunter. Und schläft. Es ist schön zu schlafen, Mama. Ich habe so lange nicht mehr geschlafen. Ich möchte schlafen, Mama. Lange, lange schlafen.«
In Wongs Reenactment verschwindet Fassbinders bittere Kapitalismuskritik. Reduziert auf eine weiße Wand und einen beigen Teppich, fehlen die allegorische Rahmung und die Beziehungen zwischen den Figuren. Wie sprachliche Schablonen sind die Sätze in allen möglichen Kontexten, in denen sich Wong in der Zukunft in der neuen Heimat wiederfinden könnte, beliebig einsetzbar. Was bleibt sind die Intensität und Negativität des Affekts, bzw. sie werden im Reenactment noch verstärkt.
Während sich Baldwin als afroamerikanischer schwuler Mann in Davis’ »Hässlichkeit« wiedererkennt, macht sich Wong Petras exzessive Negativität zu nutze. Sein Reenactment der bei Fassbinder historisch und kontextuell spezifischen Negativität Petras hat einen tendenziell entpolitisierenden Effekt. Dabei entsteht jedoch etwas Neues. Der Umstand, dass es für Wong möglich ist, sich über den spezifischen Kontext hinaus in einer Verbindung zu Petra zu imaginieren, zeugt von der Kraft des exzessiv negativen Affekts für reparative Zwecke, über nationale, kulturelle, Geschlechter- und Sexualitätsgrenzen hinweg. Das Objekt wird im Reenactment unspezifisch, aber nicht beliebig.
Vermittelt durch die Negativität des Affekts treten Wong und Petra in eine, mit Elizabeth Freeman »erotohistoriographisch« genannte, transhistorische, physische und zugleich lustvolle Beziehung zueinander.22 Wongs Performance unterstützt Freemans Verständnis von drag als ein nicht vorrangig Geschlechter- sondern Zeit-Phänomen. Sie verweist auf den charakteristischen Anachronismus von drag-Inszenierungen und auf die wörtliche Bedeutung von »to drag« – ziehen, schleifen, zerren – also etwas, das »herunterzieht«, Ballast ist und als solches zurückhält, an die Vergangenheit bindet.23 Durch die Ausstaffierung mit vermeintlich veralteten (Geschlechter‑)Accessoires tritt der Körper in der Gegenwart in Kontakt und Kommunikation mit der Vergangenheit.24 Das, was herunterzieht und zurückhält, erzeugt zugleich immenses Vergnügen. Wong bindet sich »freiwillig« an den Ballast, die Negativität Petras und erhält dadurch einen (zunächst nur imaginierten und empfundenen) Zugang zu einer Welt, in der er nicht vorgesehen ist. Dass es ihm, trotz grundlegender struktureller Widerstände, möglich ist, diesen Kontakt verkörpernd herzustellen, überrascht und löst Glücksgefühle aus. Im Anschluss an Muñoz und Sedgwick ist Wongs vorausschauende Deutschlektion als Übung in einer voraussetzungsvollen, prekären Überlebensstrategie zu verstehen.
Bilir-Meiers 16 Minuten langer Super 8-Film This Makes Me Want to Predict the Past ist in schwarz-weiß gedreht und hat die für das Medium typisch körnige Bildqualität, die geringen Helligkeitskontraste und die sanften Konturen. Die etwas wackelige Kameraführung bringt die Kameraperson (Lichun Tseng) indirekt mit ins Bild und erzeugt dadurch den Eindruck einer kommunikativen Situation (s. Abb. 8 und Abb. 9).
Die Ästhetik erinnert an experimentelle Filme der 1970er und 1980er Jahre. Das Medium bindet den Film an eine Vergangenheit künstlerischer Praxis des Post-Cinematischen, die insbesondere für low budget-Produktionen, politisch und sozial transgressive Formate und Themen sowie häufig queere Filmpraxis steht.25
Die in München und Wien lebende Künstlerin Bilir-Meier setzt sich in ihren experimentellen und poetischen Arbeiten mit der deutschen postmigrantischen Geschichte auseinander, wobei sie auf oft überraschende Weise die Recherche in persönlichen Familienarchiven mit politischer Arbeit verbindet. 2013 erinnerte sie in ihrem Video Semra Ertan an ihre Tante, die sich 1972 im Alter von 25 Jahren in Hamburg öffentlich selbst verbrannte, aus Protest gegen den Rassismus, dem sie als »Gastarbeiterin« ausgesetzt war.26 Der Entmenschlichung, die Semra Ertan erlebt hat, setzt Bilir-Meier in ihrer Arbeit ein Bild ihrer Tante als Dichterin entgegen. Das Video konzentriert sich auf Ertans zahlreiche Gedichte, dazwischen geschnitten sind fragmentarische Auszüge aus Archivmaterial öffentlicher Fernsehsender, in denen über den gewaltsamen Tod berichtet wird. Das Video Bestes Gericht (2017), das im Kontext des NSU-Prozesses und des begleitenden aktivistischen Tribunals »NSU-Komplex auflösen« entstanden ist, zeigt Bilir-Meier gemeinsam mit ihrer Cousine, der Schauspielerin Lale Yilmaz.27 Sie sehen sich Archivaufnahmen der Gerichtsshow Richter Alexander Hold an. In einigen der Folgen hat Yilmaz mitgespielt, als »Putzfrau« und zur »Zwangsheirat verschleppte Tochter«. Die Kamera zeigt die Fernsehausschnitte und die Gesichter von Yilmaz und Bilir-Meier im Wechsel, sie wirken zunächst amüsiert, dann zunehmend fassungslos, schließlich ermüdet. Schon in Semra Ertan und Bestes Gericht stellt Bilir-Meier eine explizite Verbindung zwischen rassistischer Gewalt in Deutschland und gelebtem postmigrantischem Alltag her. Dabei steht nicht die Gewalt im Vordergrund. Stattdessen vermittelt Bilir-Meier die Perspektiven derjenigen, die gleichermaßen »betroffen« sind und ihre Umgebung beobachten, auswerten und um Sprache und Ausdrucksformen für ihr Leben darin ringen.
Bilir-Meiers Arbeiten zeichnet aus, dass sie trotz der eindeutigen thematischen Verknüpfung mit der Geschichte des Rassismus in Deutschland über ein dokumentierendes und aufklärendes Interesse hinausgehen. Das ist keine zu unterschätzende Leistung. This Makes Me Want to Predict the Past ist im Rahmen von Bilir-Meiers Soloausstellung im Hamburger Kunstverein 2019 entstanden. Der Film war zugleich Teil der Ausstellung Tell Me about Yesterday Tomorrow im Münchner NS-Dokumentationszentrum, die aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit historischer deutscher Erinnerungsarbeit zur Dauerausstellung in Bezug setzt. This Makes Me Want to Predict the Past bezieht sich auf den 2016 im Münchner Einkaufszentrum Olympia verübten neonazistischen Anschlag, bei dem neun nichtmehrheitsdeutsche Jugendliche ermordet, fünf weitere angeschossen und weitere schwer verletzt wurden. Der Attentäter hatte sich auf die Anschläge 2011 in Oslo und Utøya berufen, der Anschlag in München fand an deren Jahrestag statt.
Im Film folgt die Kamera zwei jungen Frauen, gespielt von Aleyna Osmanoğlu und Sosuna Yildiz, die einen Tag im Einkaufszentrum verbringen. Die Super-8-Ästhetik verhindert eine eindeutige zeitliche Einordnung, die jungen Frauen wirken sehr »gegenwärtig« und zugleich entsteht der Eindruck einer zeitlichen Distanz, verstärkt durch den fehlenden Originalton. Das zu Sehende erscheint zugleich ganz nah und einem unmittelbaren Zugriff entzogen. Zu Beginn und immer wieder zwischendurch hält die Kamera ein paar Sekunden den Blick der Protagonistinnen. Sie gucken selbstbewusst in die Kamera, haben Spaß miteinander, scheinen unbeschwert. Sie fahren die Rolltreppen rauf und runter, laufen raus und rein, schlendern durch die Geschäfte. Sie probieren Kleidung, Sonnenbrillen, Hüte und Kosmetik aus, posieren und betrachten sich zufrieden im Spiegel. In Außenaufnahmen folgt die Kamera den beiden dabei, wie sie die Straße überqueren, hin zum Mahnmal, das an den Anschlag erinnert. Osmanoğlu und Yildiz sehen sich kommentarlos die Bilder der Ermordeten, die Blumen und Kerzen an (s. Abb. 10–12). Ein ganz normaler Tag.
Dabei wird der Rassismus nicht ignoriert oder geleugnet. Fast ganz zu Beginn stellen Osmanoğlu und Yildiz auf den Eingangstreppen eine Szene nach, deren Referenz zunächst unklar ist. Die eine hält den Kopf der anderen in ihren Händen und blickt ihr in den Mund. Die Szene erscheint harmlos, spielerisch, sie wechseln die Positionen, ihre Handgriffe sind sanft, sie müssen lachen (s. Abb. 13–15).
Einige Einstellungen später: Ortswechsel, Innenraum, eine Fotografie ist zu sehen und als Referenz zu der vorherigen Szene erkennbar. Auch hier zieht eine Person Kopf und Kinn einer anderen zurück, blickt ihr prüfend in den Mund, auf der Fotografie sind es zwei männliche Personen. Die Fotografie zeigt ein Reenactment der Situation, in der die sogenannten Gastarbeiter_innen im Auswahlprozess oder bei Ankunft in Deutschland auf ihre »Arbeitsfähigkeit« untersucht wurden (s. Abb. 16).
Die Geste vermittelt in konzentrierter Form die demütigenden und entmenschlichenden Elemente der »Gastarbeitergeschichte«. Die Kamera wechselt zwei Mal zu größeren Einstellungen, zuerst ist eine Hand sichtbar, dann eine zweite, dann andere Fotografien und ein runder Tisch, auf dem sie liegen, Unterarme. Später sind die Fotografien ein drittes Mal zu sehen sowie mindestens drei Paare Hände, Finger, die auf etwas zeigen, es entsteht der Eindruck einer Gruppensituation, eines Gesprächs. Auf einigen der Fotografien ist nun deutlich eine Bühnensituation zu erkennen (s. Abb. 17). Die Fotografien dokumentieren das Kinder- und Jugendtheaterstück Düşler Ülkesi (Land der Träume), das 1982 an den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde.28 Darin spielten minderheits- und mehrheitsdeutsche Laiendarsteller_innen Alltagsszenen aus dem Leben der »Gastarbeiter_innen« nach. Bei der Premiere des Stücks erhielt das Theater eine Bombendrohung.
Es gibt diese direkte Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber This Makes Me Want to Predict the Past bezieht sich nicht nur auf die Kontinuität rassistischer Gewalt in Deutschland, sondern auf die ebenso bereits existierende postmigrantische Geschichte der Auseinandersetzung mit dieser. Die Mutter der Künstlerin, die Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Bilir-Meier war selbst Darstellerin in dem Stück Düşler Ülkesi und hat ihre Dimplomarbeit über ihre Arbeit mit den Jugendlichen im Stück geschrieben. Bei This Makes Me Want to Predict the Past war sie für das Casting verantwortlich. Der Film stellt eine intergenerationelle Verbindung her, die auf einer kontinuierlichen Geschichte der Beschäftigung mit dem Rassismus in Deutschland beruht. Dadurch erzählt Bilir-Meier, in Fragmenten, eine andere Geschichte des Postmigrantischen. Als verbindendes Element stehen nicht die Familienbeziehungen im Vordergrund (wie sonst oft in Darstellungen postmigrantischer Geschichte), sondern ein vielfach mediatisiertes, prekäres, weil nur unter erschwerten Bedingungen erinnertes, »migrantisches Wissen«29 eines nicht festgeschriebenen Kollektivs. Als ein solch prekäres, unbestimmt intergenerationelles und transhistorisches Wissen geht es in die spielerische Reinszenierung durch Osmanoğlu und Yildiz, in die gegenwärtigen Körper und alltäglichen Situationen ein.
Mit Blick auf den Ausgangspunkt des rassistischen Anschlags ist die bloße Darstellung von Osmanoğlus und Yildiz’ scheinbar unbeschwertem Aufenthalt am Tatort riskant und auf paradoxe Weise utopisch. This Makes Me Want to Predict the Past zeigt scheinbar nichts Ungewöhnliches, sondern alltägliche Normalität deutscher Jugendlicher in einem Einkaufszentrum. Bilir-Meier setzt diese Bilder jedoch an die Stelle der zu erwartenden Bilder der Gewalt, diese stellen in ihrer Abwesenheit den Untergrund der gezeigten Alltagsszenen dar. Das Gefühl alltäglicher und zugleich utopischer Leichtigkeit auf prekärem Grund manifestiert sich nicht nur in der Referenz zu einer postmigrantischen Geschichte, sondern auch medial in der Verbindung von Bild und Ton. Die unkommentierten Aufnahmen von Osmanoğlu und Yildiz werden auf der Tonebene aus dem Off von Zitaten begleitet, die wiederum von den beiden eingesprochen sind. Es handelt sich um Zitate der YouTube-Kommentare zu dem Lied Redbone des US-amerikanischen Musikers Childish Gambino, von dessen Album Awaken, My Love! (2016). In den Kommentaren zum Lied formulieren YouTube-Nutzer_innen in hunderttausendfachen Variationen, was der Song in ihnen auslöst, ausgehend von der Formel »This song makes me want to …«. Die beliebtesten und aktuellsten Kommentare lauten zu dem Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe: »This song makes me want to read the terms and conditions and then decline them.« (56.616 Likes), »This song makes me wanna tell the coronavirus to stay home« (vor 1 Woche), »This song makes me want to break into somebody’s house at night and clean it« (vor 1 Woche).30 Die Kommentare, die sicherlich inzwischen einer Eigendynamik folgen und nicht mehr (nur) ernst gemeinte Reaktionen auf das Lied sind, drücken einen kontraintuitiven Wunsch aus, kreieren Fantasien umgekehrter oder auf andere Weise aus den Fugen geratener, alltäglicher Verhältnisse. Sie vermitteln einen Zustand formalisierten Außer-Sich-Seins, eine sanfte Ekstase.
Für den Film hat Bilir-Meier einige Kommentare ausgewählt und die Formulierung leicht verändert. Die Formel lautet jetzt »This makes me want to …«, anstatt von »This song makes me want to …«. Osmanoğlu und Yildiz sprechen die an den neuen Kontext angepassten Zitate zunächst in größeren Abständen, dann in zunehmend schnellerer Abfolge:
Wie in den YouTube-Kommentaren vermitteln die kontraintuitiven sprachlichen Bilder auch in Bilir-Meiers Film ein gebrochenes, verhaltenes Glücksgefühl. In Redbone geht es vordergründig um befürchtete Untreue in einer Liebesbeziehung, aber Childish Gambino bzw. Donald Glover, Komiker, Schauspieler und Schöpfer der subversiven US-Fernsehserie Atlanta,31 ist für eine doppelbödige Mischung aus Komik, Ernsthaftigkeit und Exzess bekannt. 2018 brachte Gambino/Glover den Song und das Video This is America heraus, in dem er in expliziten, schockierenden Bildern und abgründiger Satire den anti-Schwarzen Rassismus und die Allgegenwärtigkeit von Polizei- und Waffengewalt in den USA ausstellt. Redbone ist im Vergleich atmosphärischer, langsamer, aber gleichermaßen voller Referenzen auf afroamerikanische Populärkultur. »Redbone« ist ein Slang-Begriff für eine hellhäutige afroamerikanische Person. Childish Gambino war bis dahin vor allem für Rap-Musik bekannt, der Sound in Redbone ist von George Clintons psychedelic funk inspiriert. Childish Gambino singt das Lied mit einer außergewöhnlich hohen Falsett-Stimme. Nach einem harmonischen Beginn werden die Klänge zunehmend schriller und disharmonisch, die Stimmung ist nicht eindeutig unheimlich, aber latent beklemmend. Das Lied ist zugleich gefühlvoll und unbehaglich. Es passt perfekt zu Jordan Peeles Schwarzem Horrorfilm Get Out (2017), in dem Redbone den Eröffnungscredits unterlegt ist.32 Redbone vermittelt in konzentrierter Form das Gefühl der Paranoia, das der anti-Schwarze Rassismus in den USA erzeugt:
Insbesondere die Wiederholung der Formulierung »stay woke« verbindet Redbone mit der jüngeren Schwarzen Widerstandsbewegung in den USA.33 In This Makes Me Want to Predict the Past sind direkt und indirekt vielfältige Referenzen auf ein zeitliche und räumliche Grenzen überschreitendes Wissen um rassistische, systemische und strukturelle Gewalt eingeflochten. Bilir-Meier zeigt keine zu erwartenden Bilder des Anschlags, des Leidens. Sie erklärt nicht, klärt nicht auf. Sie entlastet sich und die Beteiligten von der Anforderung, die Realität des Rassismus’ beweisen, ihre Folgen veranschaulichen, belegen zu müssen. Diese Anforderung hatte sich im Zusammenhang der skandalösen Ermittlungspraxis um die NSU-Morde und noch im Prozess im Umgang mit den Betroffenen und Angehörigen in aller Brutalität gezeigt. Auch nach dem Anschlag in München mussten die Angehörigen jahrelang mit den staatlichen Behörden darum kämpfen, dass die Tat als rassistisch, rechtsextrem und politisch motiviert anerkannt wurde.34 Sich dieser Beweislast, die Teil der Gewalt ist, zu verweigern, ist bereits eine bemerkenswerte, überraschende Leistung. Auf unausgesprochene, sanfte Weise gibt This Makes Me Want to Predict the Past damit eine mögliche, reparative, durch komplexe Referenzen Vergnügen bereitende Antwort auf Sedgwicks Frage, wie es marginalisierten und unterdrückten Subjekten gelingt, in einer Kultur zu (über-)leben, deren erklärtes Interesse es häufig nicht ist, sie zu erhalten.[Bilir-Meier, Cana]
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