Der Beitrag setzt sich mit der Ambivalenz des dokumentarischen Blicks zwischen Sichtbarmachung und Othering auseinander. Im Zentrum steht der 2016 in Wien entstandene Dokumentarfilm Brüder der Nacht von Patric Chiha, der sich mit bulgarischen Arbeitsmigranten befasst, die in Wien als Stricher arbeiten. Das Porträt der jungen Männer dehnt die Grenzen des Dokumentarischen maximal aus und begegnet dem Problem ihrer Viktimisierung auf besondere Weise. Anhand des aktuellen Beispiels werden historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des dokumentarischen Blicks auf prekäres Leben und soziale Armut aufgezeigt.
Schlagwörter: Dokumentarfilm; Prostitution; Queer Gaze; Prekarität; Othering; Sichtbarkeit/Sagbarkeit; Armut
»Die Bowery ist der Archetypus einer Pennergegend und deshalb schon immer für Fotografen interessant gewesen.«
Der dokumentarische Blick auf Armut und prekäres Leben durchzieht nicht nur die Geschichte der Medien und Repräsentationen. Er verleiht auch den historisch jeweils neuen Medien, wie Caroline Braun am Beispiel des Films oder Sara Blair am Beispiel von Fotografie und Kunst gezeigt haben, ihre spezifische Relevanz.1 Mit dem Anliegen der Sichtbarmachung von Armut und prekärem Leben wurden und werden Entwicklungen medientechnischer Innovationen begründet.2 Und auch auf der Ebene von Sujets und ästhetischen Konventionen der Literatur-, Kunst- und Mediengeschichte führ(t)en Repräsentationen von Armut und prekärem Leben zu Innovationsschüben, insbesondere dann, wenn sie mit der Geste des Dokumentarischen in fiktionalen Kontexten experimentier(t)en. Sara Blair geht in diesem Zusammenhang etwa auf die Entwicklung neuer Figuren im frühen 20. Jahrhundert ein, die sie am Beispiel der/s Ghetto-Bewohner_in in fotografischen, filmischen und künstlerischen Darstellungen der Lower East Side in New York untersucht.3 Auch das schriftsprachliche Experimentieren mit tendenziell mündlichen Ausdrucksformen im Bereich der Literatur oder bestimmte Formen der Massendarstellung in Malerei und frühem Film zählen zu ihren Beispielen.
Im Unterschied zu diesen dokumentarischen Experimenten im fiktionalen Kontext zeichnen sich die explizit dokumentarischen Genres der Fotografie- und Filmgeschichte dadurch aus, dass sie sich dem Anliegen einer mehr oder weniger objektiven Sichtbarmachung verpflichten. Darüber hinaus gehen sie zwangsläufig aus einer sozialen Situation hervor, die in die erstellten Produkte mehr oder weniger erkennbare Spuren einträgt. Der dokumentarische Blick auf Armut und prekäres Leben4 berührt damit auch diejenigen Problemstellungen, die die Medienwissenschaft unter der Überschrift »Connect and Divide«5 diskutiert: Wie Medien ihre Nutzer_innen miteinander und mit der Welt verbinden und/oder diejenigen, die sie »zeigen«, von Zuschauer_innen und User_innen aus gesehen als »Andere« konstituieren (Othering),6 zählt zu den zentralen Fragestellungen gegenwärtiger Analysen nationaler und transkultureller Medienkulturen. Die Auseinandersetzung mit dem dokumentarischen Blick auf Armut und prekäres Leben gewinnt vor diesem Hintergrund ihre besondere Relevanz.
Aus fernsehhistorischer Sicht hat Laurie Ouellette diesen Blick im Kontext eines »Willens zum Wissen« verortet, in dem Sichtbarmachung und Othering in enger – wenn auch nicht festgelegter – Verbindung stehen. Die Armen werden, so die These von Ouellette, etwa im Kontext der frühen sozialdokumentarischen Fotografie unter anderen gesellschaftspolitischen und ästhetischen Vorzeichen als die prekär lebenden Familien und/oder Individuen des gegenwärtigen Reality-Fernsehens ins Bild gesetzt. Von passiven Opfern über emblematische Figuren eines universell-menschlichen Leidens bis hin zu aktiven Unternehmer_innen ihrer Selbst bringt das Dokumentieren von Armut und prekärem Leben ein überschaubares Feld visueller Konstruktionen und ein dazu gehörendes Figurenarsenal hervor, das eine ausgeprägte historische Kontinuität aufweist. Sara Blair spricht in diesem Zusammenhang von Bildern und Nach-Bildern (»After-Images«), die sich gleichermaßen in dokumentarischen wie fiktionalen Kontexten auffinden lassen. Mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung einer sich ausdehnenden, unterschiedliche soziale Milieus erfassenden Prekarisierung verlangen allerdings nicht nur die historischen Kontinuitäten, sondern gerade auch die Diskontinuitäten eine besondere Aufmerksamkeit.
Einigen dieser historischen Brüche und Kontinuitäten möchte ich im Folgenden anhand eines aktuellen Beispiels nachgehen. Patric Chihas 2016 in Wien entstandener Dokumentarfilm Brüder der Nacht befasst sich mit bulgarischen Arbeitsmigranten, die in Wien als Stricher arbeiten.7 Das Porträt der jungen Männer dehnt die Grenzen des Dokumentarischen maximal aus und begegnet dem Problem ihrer Viktimisierung auf besondere Weise. Der Film bietet sich daher an, mit ihm und über ihn hinaus, das komplexe Verhältnis zwischen Sichtbarmachung und Othering zu reflektieren.
Der Film Brüder der Nacht zeigt und erzählt nächtliche Episoden aus dem Alltag junger bulgarischer Roma, die in Wien als Stricher arbeiten. Sie sind zwischen 16 und 22 Jahre alt, die meisten definieren sich als heterosexuell, haben Frauen und Kinder in Bulgarien. Einige von ihnen haben sehr jung geheiratet bzw. wurden verheiratet. Ihre Kunden sind ältere schwule österreichische Männer, die sie in einer Bar im ehemaligen Arbeiterbezirk Margareten (5. Bezirk) treffen.8
In der Bar »Rüdiger« in der Rüdigergasse zeigt der Film die jungen Roma bei der Arbeit, die sie »bizness« nennen, beim routinierten Warten und Anbahnen, Billard spielen, Bier trinken, Rauchen und Feiern. Zwei kurze Szenen dokumentieren Anbahnungsgespräche mit österreichischen Freiern, die sich zwischen Ausbeutung und väterlicher Fürsorge bewegen. Wien und Österreich sind ansonsten abwesend im Film. Bulgarien, Kinder und Ehefrauen sind ebenfalls nur durch Fotos auf dem Smartphone und durch Anrufe präsent. Die Abwesenheit von Österreich und Bulgarien im Film ist die Folge einer konzeptuellen Entscheidung, die den Film in die Nähe dessen rückt, was die Bochumer Filmwissenschaftlerin Eva Hohenberger als »Neuen Österreichischen Formalismus (NÖF)« bezeichnet hat.9 Benannt ist damit, laut Hohenberger, eine sich seit den 1990er Jahren abzeichnende Tendenz zur Verselbstständigung der filmischen Form zum Formalismus.10 Auf der Basis einer strikten Trennung von Politik und Moral formuliert Hohenberger die These, dass der (selbst-)reflexive Umgang mit der filmischen Form und Gertrud Kochs Losung »Die Einstellung ist die Einstellung«11 nicht zwangsläufig politische, sondern zunächst moralische Fragen eröffnet: »Die Moral hat es mit Werten zu tun und besagt, was als gut und böse gilt, die Politik betrifft die Formen des Zusammenlebens, die Organisationsweisen des Sozialen und die Möglichkeiten und Beschränkungen der Teilhabe aller.«12
Das politische Potenzial des Dokumentarfilms wird allerdings nur dann ausgeschöpft, so argumentiert Hohenberger mit Rancière, wenn Filme es schaffen, »Identitäten, die durch eine natürliche Ordnung der Verteilung von Funktionen und Plätze bestimmt sind, in eine Streiterfahrung« umzuformen und sie ihrer Selbstverständlichkeit zu entreißen.13 Den von ihr diskutierten Filmen spricht Hohenberger diese Form von Politisierung ab.14 Und auch der Film Brüder der Nacht, der sich durch ein ambitioniertes ästhetisches Konzept auszeichnet, gerät vor diesem Hintergrund mindestens in eine Schieflage.
Auch wenn ich der strikten Trennung zwischen Politik und Moral nicht folge, da sie aus meiner Sicht das intrinsische Verhältnis von Politik und Ästhetik tendenziell wieder aus den Augen verliert,15 scheint mir Hohenbergers Problematisierung des »Neuen Österreichischen Formalismus (NÖF)« geeignet, dem Verhältnis von Politik und Ästhetik im Film Brüder der Nacht nachzugehen. Dabei möchte ich aufzeigen, dass die Frage, wer wie von wem und für wen ins Bild gesetzt wird, keinesfalls »nur« moralisch zu bewerten ist. Sie betrifft vielmehr die politische Frage nach den Organisationen des Sozialen recht konkret. Anders formuliert: Die Praxis des dokumentarischen Filmemachens ist gerade nicht auf eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Entscheidungen zu reduzieren, sondern selbst als eine soziale Praxis zu verstehen, die mit den Bedingungen der gegenwärtigen Organisationen des Sozialen umzugehen hat. Diese lassen sich allerdings von Fragen der Wahrnehmung, von Macht- und Begehrensrelationen und damit auch von Fragen der Moral nicht trennscharf abgrenzen. Gerade vor diesem Hintergrund reflektiert Rancière das Problem der Sichtbarkeit weniger mit Blick auf die Frage »Was darf man zeigen?«, sondern mit Bezug auf die Bedingungen und Möglichkeiten des in Erscheinung Tretens und Wahrgenommen-Werdens. Das Angewiesensein von Politik auf Fragen der Wahrnehmung ist nicht nur für Rancière von Interesse. Es ist vielmehr auch das Kernanliegen einer Medienwissenschaft, die dafür eintritt, Politisches und Mediales nicht in eine (wie auch immer ausfallende) hierarchische Reihenfolge zu bringen. Wer fragt »Was darf man zeigen?« stellt implizit immer auch die Frage nach den Konsequenzen für die Organisationen des Sozialen bzw., umgekehrt, nach den Möglichkeiten und Beschränkungen des Sicht- und Wahrnehmbaren, die aus den Organisationen des Sozialen hervorgehen.16
Das Konzept des Films Brüder der Nacht verlangt u. a. eine fast durchgängig eingehaltene Beschränkung auf Nachtszenen, womit die Protagonisten, für die die gegenwärtigen Arbeitsmärkte ohnehin nur eine Existenzsicherung bei Nacht vorsehen, auch in der filmischen Inszenierung auf den Typus der »Nachtgestalt« festgelegt werden. Der Film Brüder der Nacht spielt darüber hinaus mit der Konnotation der Zwielichtigkeit und verspricht einem, tendenziell als milieufremd imaginiertem Publikum, Einblicke in unbekannte Welten. Im Hinblick auf die Frage nach der politischen Subjektivierung ist damit allerdings noch längst nicht alles über den Film gesagt. Denn in anderer Hinsicht weist er durchaus das Potenzial auf, Identitäten ihrer vermeintlich natürlichen Ordnung zu entreißen. Was der Film leistet, ist, dass er seine Protagonisten konsequent von Selbstauskünften entlastet. Durch bildkompositorische Zitate aus Filmen von Rainer Werner Fassbinder, Pier Paolo Pasolini und Kenneth Anger rückt er sie vielmehr in die Nähe fiktionaler Figuren, die in ihrem Spiel vor der Kamera fließende Übergänge zwischen Realität und Fiktion, Alltag und Traum zur Aufführung bringen. Neben den Szenen im »Rüdiger« findet ein Großteil des Films in opulent inszenierten Räumen statt, in denen das Rotlicht der Bars und das virtuos gesetzte Filmlicht diese Übergänge auch bildlich realisieren.
Spielerisch-professionelle Posen, Gesten, Prahlereien und Selbstaufführungen der jungen Männer, die Szenen aus ihrem Arbeitsalltag nachstellen, werden im Film an keiner Stelle ins Tageslicht überführt oder gar auf ihre Plausibilität hin befragt. Sie bleiben konsequent im künstlich erzeugten, weitgehend entrückten Ambiente, das sie vom Zwang der authentischen Selbstauskunft enthebt. Die konzeptuelle Einschränkung auf Nachtszenen trägt in diesem Sinne auch dazu bei, das dokumentarische Anliegen der Sichtbarmachung zurückzuweisen oder mindestens zu relativieren. Sie erweist sich so als eine Entscheidung, die nicht nur ästhetische, sondern durchaus moralisch-politische17 Überlegungen impliziert. Die Protagonisten des Films werden ebenso zu »sehen gegeben« wie dem Blick des Publikums zugleich auch entzogen. Der Film evoziert kein analytisch-hierarchisches Durchdringen seiner Hauptfiguren, sondern einen zugewandten, queeren Blick, der sich auf die Attraktivität, Ausstrahlung und Energie der jungen Männer konzentriert. Dieser Blick verläuft zwar nicht gänzlich am Thema der prekären Lebensumstände vorbei, aber er irritiert die Konventionen des Milieufilms und damit das, was über bulgarische Roma sagbar und von ihnen sichtbar ist, auf überzeugende Art und Weise.18 Ob die Protagonisten, denen in anderen Medien oftmals abgesprochen wird, etwas zu sagen zu haben, sich auf diese Weise Gehör verschaffen und sich im Sinne Jacques Rancières als »Gleiche« etablieren (können), ist allerdings fragwürdig.
Die ästhetisch-theatrale Gestaltung des Films erweist sich als Versuch, eine »Lösung« für das Problem einer vorurteilsbehafteten Wahrnehmung seiner Protagonisten zu finden. An die Stelle von Sozialrealismus und Sichtbarmachung setzt der Film das Recht auf Fiktionalisierung. Die entrückte Stimmung der arrangierten szenischen Kompositionen, die in blaues, rotes, manchmal goldenes und pinkfarbenes Licht getaucht und mit einer Symphonie von Gustav Mahler unterlegt werden (s. Abb. 1),19 zielt nicht direkt darauf ab, die »harte Realität des Stricher-Alltags« zu überschreiben.20 Sie dient vielmehr einer bewusst erzeugten Verschiebung der Wahrnehmung: In den Fokus rücken Reflexionen über Existenzweisen, die durch paradoxale Konstellationen von fiktionalisiertem Alltag, spielerischem Ernst, erfundenen gelebten Identitäten und einer um Selbstachtung kämpfenden Selbstvermarktung gekennzeichnet sind.
Betont wird damit gerade nicht die Differenz zwischen den Protagonisten des Films und seinen Zuschauer_innen. Vielmehr wird ein Nachdenken über strukturelle Ähnlichkeiten und damit zugleich über die ökonomisch-politischen Bedingungen, die die Lebensumstände dieser jungen Männer und die der Zuschauer_innen hervorbringen, angeregt.21
Das Hauptinteresse des Films liegt offenbar darin, seine Protagonisten zwar als Betroffene globaler Markt- und Ausbeutungslogiken und innereuropäischer Machtgefälle, nicht aber als Opfer zu inszenieren. Der Film bemüht sich vielmehr darum, Interesse für ihre vom Filmemacher Patric Chiha angeleiteten Selbstaufführungen zu erzeugen.22 Gesagt und gezeigt wird somit nicht das, was sich von einem Dokumentarfilm über bulgarische Sexarbeiter in Wien erwarten lässt. Aber lässt sich damit dem Problem des Othering entgehen? Überführt der Film seine Protagonisten in eine »Streiterfahrung«, insofern er übliche genrespezifische Festlegungen und soziopolitische Vereindeutigungen vermeidet?
Die Protagonisten Stefan, Yoko und seine Freunde werden in durchaus ungewohnter Art und Weise ins Bild gesetzt. Themen, die über ihre gegenwärtige Lebenssituation oder auch nur die Nacht hinausweisen, besetzen sie allerdings nicht. Mehr noch, ihr aktiver Part im Film sprengt nicht etwa das ästhetische Konzept des Films, sondern arbeitet diesem zu.23 Die aktive Selbstaufführung der Protagonisten lädt nicht zuletzt zu einer medienvergleichenden Perspektive ein: Worin unterscheiden sich die angeleiteten Selbstinszenierungen in Brüder der Nacht etwa von derzeit gängigen Selbstaufführungen prekär lebender Familien und Individuen im Reality-Fernsehen? Der wichtigste Unterschied zwischen Brüder der Nacht und Fernsehformaten wie etwa das auf RTL 2 gesendete Armes Deutschland24 liegt darin, dass die Protagonisten in Brüder der Nacht zwar etwas aufführen, das Aufgeführte allerdings nur in loser, wenngleich auch struktureller Entsprechung zu ihnen selbst oder ihren eigenen Bedingungen steht. Auch im Reality-Fernsehen wird selbstverständlich mit »ausgedachten« und vorformulierten Realitäten gearbeitet, die von Teilnehmer_innen der Sendungen umgesetzt werden. Die Erfindungen des Fernsehens dienen allerdings in der Regel der Zuspitzung von Realitäten und Vereindeutigung von Identitäten, auch wenn diese nicht gelingen und ihrerseits unbeabsichtigte Effekte erzeugen. Der Film Brüder der Nacht nähert sich seinen Protagonisten mit einem nahezu gegenteiligen Anliegen. Er sucht nach einem »anderen«, weniger erwartbaren Blick, lässt sich vom eigenen Begehren antreiben und schließt auf Seiten der Zuschauer_innen »Wissenslücken«, die noch gar nicht als solche in Erscheinung getreten sind. Vermeintlich Relevantes und Irrelevantes geraten in Bewegung und dem affektiven Zugang zu den Protagonisten wird eine deutliche Präferenz gegenüber soziographischen Daten und Analysen gegeben. Mit voller Absicht berührt der Film die Bedingungen der Sexarbeit »nur« über ihre Ränder, wie etwa die von den Protagonisten besprochenen notwendigen Investitionen in die eigene Attraktivität oder die strategischen Möglichkeiten im Führen von Verhandlungsgesprächen (s. Abb. 2).
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen liegt die Frage nahe, wie der Film Brüder der Nacht mit dem dokumentarischen Anliegen der Sichtbarmachung umgeht. Macht er überhaupt etwas sichtbar? Was den Film vor allem ausweist, ist die Handschrift und der Gestaltungswille seines Regisseurs, der sich punktuell allerdings auch mit den Anliegen seiner Protagonisten trifft. Die Protagonisten erscheinen weniger als Repräsentanten einer sozialen Gruppe, sondern vielmehr als individuelle »Kunst«-Figuren, die unterschiedlich vor und mit der Kamera agieren. Kamera und Montage heben ästhetische Stilsicherheiten, soziale Kompetenzen, bis zum Perfektionismus reichende Ambitionen, Selbstreflexion und vor allem Solidarität in der Gruppe hervor. Üblicherweise ins Bild gesetzte, weitgehend mit Passivierung konnotierte Bedingungen prekärer Lebensbedingungen, wie problematische Wohnverhältnisse, wartende Personen in anonymisierten Gebäuden usw., umgeht der Film konsequent. Stattdessen arbeitet er mit dem Recht auf Selbstverkennung und Selbstidealisierung, die durch die filmische »Überhöhung« der Protagonisten nicht entlarvt, sondern geradezu verdoppelt wird.25 Ist hier womöglich gerade im Weglassen der sozialpolitischen Gefüge, in denen die Protagonisten agieren (müssen), eine Form der politischen Subjektivierung zu erkennen? Überführt der Film in diesem Weglassen die Identitäten und Orte seiner Protagonisten in eine »Streiterfahrung«?
Auf den ersten Blick muss die Antwort »Nein« lauten. Mehr noch: Die aktive Selbstaufführung der Protagonisten geht aus einer Zeit hervor, in der die passive Opferinszenierung tendenziell ihre politische Währung verliert26 und die gegenwärtigen »Bilder des Prekären«, die nicht nur das Fernsehen, sondern mit (wieder) ansteigender Intensität auch Kino und Theater bereithalten, durch Praktiken der Selbstaufführung (von Betroffenen) ersetzt wird. Auch wenn der Film Brüder der Nacht sich von Inszenierungen des Reality-Fernsehens grundlegend unterscheidet, profitiert auch er von der aktivierenden Logik des unternehmerischen Selbst, in der das »passive Opfer seiner Verhältnisse« massiv unter Druck gerät und dabei auch mehr und mehr seine Solidaritätsansprüche verliert.27
Aus ebenso professionellen wie privaten Gründen setzen sich Stefan, Yoko und seine Freunde mit ihrem eigenen Bild intensiv auseinander. Viele Szenen zeigen ihr Interagieren mit Smartphones und die Herstellung von Fotos, die zur Kunden-Akquise, aber auch als Freizeitvergnügen und zur Kontaktpflege mit der Familie dienen. Der Umgang mit dem eigenen Bild garantiert in mehrfacher Weise ihre Existenzsicherung. Die Logik der Verwendung dieser Fotos diktiert dabei den Anspruch an sie, der sich vom dokumentarischen Anliegen der Sichtbarmachung deutlich unterscheidet. Aus der Sicht der Protagonisten geht es weniger um Authentizität und Dokumentation als um das notwendige Ausloten von und Auseinandersetzen mit einem potentiellen und bewusst idealisierten Selbst.28 Der aktive Umgang mit dem eigenen Bild »löst« allerdings nicht das Problem der filmischen Produktion von Alterität, insofern der Mediengebrauch der Protagonisten wiederum zum vielfach eingesetzten Bildmotiv wird.29
Patric Chiha lässt sich vom Anliegen der bildlichen Selbstidealisierung allerdings inspirieren und fügt eigene Assoziationen hinzu. Zum Thema werden so Selbstfiktionalisierungen, die die Grenzen zwischen Alltag und filmischer Fiktion kaum noch adressierbar machen. Die zugespitzten und zugleich dramatisch fragilen Männlichkeitsentwürfe werden als gelebte Realität und medialisierte Fiktion lesbar.
Die temporäre Sex-Arbeit in Österreich, die durch mehr oder weniger regelmäßige Reisen nach Bulgarien zu Frauen, Familien und Kindern unterbrochen wird, lässt die Grenze zwischen Arbeit, Nicht-Arbeit und Freizeit erodieren, auch wenn sie als »bizness« bezeichnet wird. Die Art des Geschäfts verursacht die Anstrengungen einer Identitäts- und Emotionsarbeit, in der um Selbstbehauptungen (im Sinne von: Ich erfülle nicht alle Kundenwünsche, sondern entscheide selbst und wäge ab), Durchhaltevermögen (Anderen geht es schlechter) und Zwangsheterosexualität (Ich erfülle nicht alle Kundenwünsche, ich bin ja nicht schwul) gerungen wird.
Der Grad zwischen sexueller Selbstbestimmtheit und Zwangsheterosexualität wirkt ohnehin schmal. Angesichts des eigenen Arbeitsalltags wird die sexuelle Identitätsarbeit allerdings aufwändig, wenn nicht unmöglich. Und so oft die Phantasie des guten Lebens in der Zukunft beschworen wird,30 zu der neben Heterosexualität noch ein »normaler« Job, Kinder, Konsum, Freiheit, Autos und Geld gehören, desto mehr bemüht sich der Film um Einblicke in diejenigen Momente des Wiener Nachtlebens, die die alles andere als zwanglosen Erwartungen von Familie und Umfeld konterkarieren. Bild und Ton heben immer wieder, besonders aber in der fulminanten Partyszene am Ende des Films,31 die Solidarität und Freundschaft zwischen den teils verwandtschaftlich verbundenen Männern hervor (s. Abb. 3).
Feiern, Drogen und durchgemachte Nächte, in denen die Arbeit soviel Geld einbringt, um sich selbst weibliche Prostituierte leisten zu können, sind fixe Bestandteile ihres Alltags in Wien, der sich für die teils sehr jungen Männer zwischen Zumutung und Freiheitsversprechen bewegt. Für einige von ihnen gehört das »Nicht Schwulsein« zum notwendigen Bestandteil einer Phantasie des guten Lebens, die angesichts des gelebten Alltags allerdings in erhebliche Bedrängnis gerät, vor allem dann, wenn man nicht bereit ist, diesen Alltag ausschließlich als Zwangslage zu definieren.32
Der Stellenwert der Geschlechterdifferenz fällt vor allem im Vergleich zu Filmen auf, die sich mit der Arbeitsmigration weiblicher Sexarbeiterinnen auseinandersetzen. Ein im fiktionalen Genre angesiedelter Film, der allerdings ebenfalls mit der Überlagerung dokumentarischer und fiktionaler Inszenierungsformen spielt, ist der österreichische Film Joy von Sudabeh Mortezai, der am 30. August 2018 im Rahmen der 75. Filmfestspiele von Venedig seine Premiere feierte.33 Auch dieser Film positioniert sich im Wiener Rotlichtmilieu und erzählt die Geschichte einer nigerianischen Prostituierten, die, wie Stefan, Yoko und seine Freunde, das in Wien verdiente Geld dazu verwendet, ihre Familie in Nigeria zu unterstützen (s. Abb. 4).34
Im Unterschied zu Brüder der Nacht versieht der Film Joy die Sex-Arbeit und das sie bedingende Milieu allerdings nicht mit Freiheitsversprechen, Feierstimmung oder Nuancen von Selbstbestimmung. Vielmehr konzentriert er sich auf die Auseinandersetzung mit Gewalt und Abhängigkeiten und entwirft pessimistische Aussichten im Hinblick auf die Möglichkeiten, dem Milieu zu entkommen. Diese Schwierigkeit macht Frauen, das zeigt der Film deutlich, sowohl zu Opfern als auch zu Täterinnen. Wer den Ausstieg nicht schafft, aber innerhalb des Milieus die existierenden hierarchischen Strukturen durchläuft und sich »hoch« arbeitet, wird unter Umständen selbst zur Zuhälterin und damit zur Ausbeuterin jüngerer, unerfahrener Frauen. Die titelgebende »Freude« ist im Film abwesend, auch wenn seine Protagonistin diesen Namen trägt. Die Hauptfigur Joy ist Teil eines ausbeuterischen Systems, dessen Wirkung nicht erst in Wien, sondern mit einem in Nigeria abgelegten Schwur beginnt, der es der Hauptfigur verbietet, bei den europäischen Behörden gegen ihre Landsleute auszusagen. Erst im Verlauf erschließt sich für nicht eingeweihte Zuschauer_innen das sogenannte Juju-Ritual zu Beginn des Films als Teil eines brutalen Kreislaufs.
Ähnlich wie Brüder der Nacht ist im Film Joy kaum etwas von Wien bei Tag zu sehen. Wieder dominieren Nachtszenen, die den Glanz und Glamour von Wien als altehrwürdige europäische Metropole ausblenden. Obwohl Joy sich im Unterschied zu Brüder der Nacht als Spielfilm definiert, wird er an keiner Stelle »unterhaltsam« oder gefällig. Das dokumentarische Anliegen der Sichtbarmachung steht im Vordergrund, auch wenn das inszenierte Setting fiktiv ist (s. Abb. 5).
Der dokumentarische Duktus ergibt sich nicht zuletzt durch den Einsatz von Laiendarstellerinnen, die zwar keine Erfahrung mit Schauspiel, dafür aber Erfahrungen mit dem Thema des Films mitbringen. Ob es hier (noch) um die Frage der Authentizität geht oder nicht vielmehr schon um die Frage der Teilhabe am Filmgeschäft, ist eine Frage, die der Film dringlich werden lässt. Die Organisation des Sozialen und die Formen des Zusammenlebens werden damit direkt berührt. Auch wenn sich der Titel dem Namen seiner Hauptdarstellerin Joy Anwulika Alphonsus verdankt, so argumentiert die Erzählung, dass es vor ihr und nach ihr andere Prostituierte gab und geben wird, die sich in ähnlichen Zwangs- und Abhängigkeitsgefügen bewegen. Auch diejenigen, so legt der Film nahe, die sich nicht mit ihrem »Schicksal« abfinden und sich anfangs noch gegen die Gesetze des Milieus auflehnen, sehen sich aus Mangel an Alternativen oftmals gezwungen, schließlich doch innerhalb des Systems ihr Überleben zu sichern. Am Ende sind es somit auch sie selbst, die das System von Gewalt und Abhängigkeit mittragen.
Im Vergleich der beiden Filme fällt auf, dass der Spielfilm Joy seine pessimistische Grundstimmung kaum verlässt. Anders als Brüder der Nacht sucht der Film auch kaum nach den »positiven« Momenten in der Tristesse und findet im Milieu der Ausbeutung von Körpern auch keine oder nur sehr minimale Nuancen von Selbstbestimmung und nur wenige Freiheitsmomente. Benannt sind damit nicht nur ästhetische Differenzen, die Zielsetzungen der Filmemacher_innen oder die Art und Weise, wie sie sich ihren Protagonist_innen nähern.35 Grundiert werden diese Entscheidungen vielmehr auch durch die unterschiedlichen Zugänge zu und Bedingungen von Sexarbeit für Männer und Frauen. Beide Filme behandeln dieses Thema nicht explizit, seine Relevanz ergibt sich vor allem implizit.
Unter dem Blickwinkel von Eva Hohenberger wäre auch dem Film Joy keine Form der politischen Subjektivierung zuzuschreiben, insofern auch dieser Film Identitäten nicht zur »Streiterfahrung« werden lässt. Viel mehr noch als in Brüder der Nacht werden im Film Joy die Erfahrungshorizonte von Zuschauer_innen und Protagonist_innen als »anders« unterstellt. Die Verbindungen zwischen diesen Horizonten, die der Film Brüder der Nacht immerhin sucht, werden in Joy nicht adressiert. Der Film Joy gewinnt allerdings seine Stärke dadurch, dass er die Sehkonventionen eines europäisch geprägten Kino- oder Festivalpublikums nicht oder nur bedingt erfüllt. In seinem Changieren zwischen dokumentarischen und fiktionalen Modi des Erzählens wirkt er stellenweise irritierend bis verstörend. (Unterstellte) Vorlieben seines Publikums für selbstreflexive filmische Formen werden nicht bedient. Demgegenüber setzt der Film Brüder der Nacht auf ein ästhetisch und filmhistorisch gebildetes Publikum, auch wenn sich die Zitate aus Fassbinders Querelle36 und Bezüge von Pasolini über Jean Genet bis zu den übersteigerten Männlichkeitsentwürfen eines Kenneth Anger auch ausblenden oder übersehen lassen.
Ob sich die hier porträtierten Ungleichen als Gleiche etablieren, kann nur negativ beantwortet werden. Die Frage ist allerdings auch, ob es klug ist, ein Verständnis des Politischen zu verfolgen, das in seiner sozialpolitisch tendenziell gegebenen Unerreichbarkeit selbst ein wenig (zu) polizeilich daherkommt. Demgegenüber lässt sich feststellen, dass beide Filme durchaus Momente aufweisen, in denen sie die »Aufteilungen des Sinnlichen«37 mit den Mitteln des Kinos herausfordern und andere, in denen sie diese tendenziell affirmieren. Beide Tendenzen werden in der Rezeption der Filme relevant und finden, nicht zuletzt auch durch kontroverse Auseinandersetzungen, Eingang in die Organisationen des Sozialen. Insofern das Soziale immer auch »gelebt« bzw. praktiziert werden muss, interferieren Politik und Wahrnehmung auf mehr oder weniger unübersichtliche und vor allem nicht festzulegende Art und Weise. Aus der Sicht der Mikropolitik lässt sich daher auch die Bereitstellung neuer Ausdrucksformen und/oder die Schaffung eines neuen Imaginären als politisch verstehen. Und wenn man überhaupt bereit ist, Filme als Instanzen anzuerkennen, an denen Politisches mindestens (mit-)verhandelt wird, dann heißt das auch, dass das Politische in zuvor unbekannter Weise und damit auch in einem nicht festzulegenden Verhältnis zur Moral auftauchen kann und wird. In der oben skizzierten Weise bearbeiten beide Filme die politische Dimension von Wahrnehmungsformen, auch wenn sie selbst ihre jeweiligen soziokulturellen Situierungen nicht hinter sich lassen. Wie könnten sie auch?[Chiha, Patric]
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